Historisch ist diese Staatsreform in allen Belangen.
Historisch erst einmal wegen ihrer Genesis: 541 Tage ohne Regierung: ein Land am Abgrund - Belgien vor der Implosion... Dann gab es ja doch noch ein Abkommen. Aber Abkommen, was heißt das schon? Man hätte eigentlich darauf gewettet, dass es bei dessen Übertragung in Gesetzestexte noch mal zu lauten Misstönen kommt; eine neue Dramatisierung, vielleicht bekommt sogar eine Partei noch kalte Füße... Diese Kassandra-Rufe haben sich als unbegründet erwiesen: Der eigentlich gesetzgeberische Prozess im Parlament ist weitestgehend "wie auf Röllchen" gelaufen, noch dazu in Rekordzeit.
Fast genauso unspektakulär war jetzt aber auch die Besiegelung. Ohne großes Brimborium, ohne die ganz dicken Schlagzeilen, fast schon nebenbei ist die Sechste Staatsreform vom Parlament auf die Schienen gesetzt worden. Das ist eigentlich nur schwer nachzuvollziehen. Wie die Zeitung De Morgen schon richtig bemerkte: Was sollte denn das ganze Theater? Warum wurde denn jahrzehntelang das Schreckgespenst bemüht, wonach Flandern ohne eine Spaltung von BHV in seiner Existenz bedroht war? Warum dieses endlose Gefeilsche um mehr Zuständigkeiten?
Jahrzehntelang drehten Wahlkämpfe in Flandern quasi ausschließlich um diese gemeinschaftspolitischen Themen. Dann die historische Spaltung von BHV. Und die zweite Phase, die jetzt im Parlament verabschiedet wurde, hat nicht minder "historische" Dimensionen: eine Steuerautonomie, die den Namen verdient, die Regionen werden künftig viel mehr als jetzt ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen; die Übertragung von Zuständigkeiten im Gegenwert von rund 18 Milliarden; eine wirkliche "kopernikanische Revolution", der politische Schwerpunkt verlagert sich vom Föderalstaat weg hin zu den Teilstaaten - eine zentrale Forderung der Flamen.
Und jetzt? Jetzt erregt die Verabschiedung der Staatsreform im Parlament gerade mal so viel Aufsehen wie ein Partnerschaftsabkommen mit den Fidschi-Inseln... Das könnte vielleicht daran liegen, dass der Politik ihre eigene Reform ein bisschen unheimlich ist.
Um es mal so auszudrücken: Es ist längst nicht sicher, dass die Staatsreform nicht am Ende mehr neue Probleme schafft als alte zu lösen. Belgien wird zumindest in einer ersten Phase jedenfalls eher komplexer als einfacher.
Beispiel Kindergeld: Künftig wird das von den Gemeinschaften ausgezahlt. Schön und gut. Solange niemand an den Kriterien herumschraubt. An dem Tag, an dem - je nach Region - unterschiedliche Bedingungen gelten werden, wird es haarig. Was macht man, wenn ein Paar mit Kindern sich trennt, und ein Elternteil in der Wallonie und eins in Flandern wohnt? Wo beantragt man das Kindergeld? Droht nicht insbesondere in Brüssel auf Dauer ein "Sozialsystem-Tourismus"? Parlamentarier, wie etwa die ostbelgische Liberale Kattrin Jadin, geben offen zu, dass man von der Übertragung des Kindergeldes besser die Finger gelassen hätte. Auch Gemeinschaftssenator Louis Siquet ist eher von Bauchschmerzen denn von Glücksgefühlen getrieben.
Anderes Beispiel: das Finanzierungsgesetz. In der Wallonie dürften die Parteien im stillen Kämmerlein da ein doch eher mulmiges Gefühl haben. Die Wallonie wird auf Dauer - genau gesagt in zehn Jahren - finanziell weitgehend auf eigenen Füßen stehen müssen. Das heißt: Jetzt muss man sich in Namur aber endgültig auf die Hinterbeine stellen. Wenn man sich die wallonische Regionalpolitik der letzten Jahre aber mal so anschaut, dann sind da durchaus ernste Zweifel erlaubt. Eins ist sicher: Die Standard-Ausrede, von wegen: "Wir sind doch gar nicht zuständig", die kann man bald nicht mehr vorschieben. Denn: Bald IST die Wallonie zuständig.
Die Wallonie läuft jedenfalls Gefahr, am Ende als der große Verlierer da zu stehen. Da macht es sich gut, dass alle traditionellen Parteien an der Staatsreform mitgewirkt haben; dann tragen am Ende auch "alle" die Verantwortung.
Insgesamt ist es aber so, dass niemand die konkreten Auswirkungen auf den Alltag der Bürger wirklich genau einschätzen könnte; das Ganze ist so kompliziert, dass vor allem die Regionen wohl erst einmal eine geraume Zeit nötig haben werden, um die Sechste Staatsreform in die Praxis umzusetzen, zumindest, was das Finanzierungsgesetz angeht.
Und ob das alles am Ende zum Wohle der Bürger in diesem Land sein wird? Zumindest hofft man das; mehr kann man nicht tun.
Das ist denn auch der unschöne Verdacht, den die Sechste Staatsreform aufwirft. Der Bürger stand oft genug nicht wirklich im Mittelpunkt. Einige Dispositionen werden nur getroffen, um den Fisch in Wahrnehmung der flämischen Öffentlichkeit dicker zu machen. Eben Beispiel Kindergeld, das ja schon mit fast sieben Milliarden Euro zu Buche schlägt. Effizienter wird der "Staat" aber dadurch sicher nicht.
Historisch in allen Belangen eben: eine historische Befriedung nach einem epischen Dauerstreit; eine historische kopernikanische Revolution, die den belgischen Föderalstaat endgültig dezentralisiert. Historisch aber auch in ihrer Komplexität, die an institutionelle Quantenmechanik erinnert. Wobei niemand heute sagen kann, ob sich das Ganze nicht aus Sicht der Bürger zumindest in Teilen als ein historischer Fehler erweisen wird...
Ein guter Kommentar !
Jetzt sind die schönen bequemen Zeiten vorbei für die Wallonie, in der man "schöne Pöstchen" in der Verwaltung schaffte, um die Arbeitslosenziffer künstlich zu senken. Jetzt bedarf es einer klugen Wirtschaftspolitik, um auf Dauer auf eigenen Füssen zu stehen.
Was ich befürschte, ist dass der "kleine Mann" mal wieder zur Kasse bebeten wird. Wenn das Geld aus Flandern weniger wird und am Ende ganz ausbleibt, werden wahrscheinlich Grundstückssteuern, Gemeindegebühren, und viele andere Dienstleistungen der öffentlichen Hand teurer.
Auf jeden Fall, so wie bisher kann es nicht weitergehn, es wird Zeit aufzuwachen.
So kann es effekiv nicht weitergeh'n, aber wie heißt es so schön : "Das Geld liegt auf der Bank" - die haben 2008 & 2009 von uns prpfitiert, jetzt sollten wir dran sein... Mit profitieren...
Ich habe mich diesen richtigen Kommentar im BRF-Radio am Freitag angehört. Die B.U.B. ist die einzige politische Partei in Belgien die diesen Standpunkt teilt: die sechste Staatsreform ist eine Katastrophe für Belgien. Es freut mir sehr dass es noch gute Journalisten in Belgien gibt. Vielen Dank, Roger Pint !
Effizienter werden die beiden Teilstaaten durch diese Reform zuerst mal sicherlich nicht.
Es bleiben Wallonien und somit auch uns nur einige Jahre um ein ganzes System umzukrempeln. Auch wenn die DG mehr Eigenständigkeit irgendwann übertragen bekommt, so hängt die damit verbundene finanzielle Ausstattung vom wirtschaftlichen Ergebnis Walloniens ab.
Die im größeren Stiel durchgeführten Werkstilllegungen der Vergangenheit und die von heute müssen durch neue Ansiedlungen kompensiert werden.
Mit welchen Anreizen kann man die Investoren dazu bewegen sich hier anzusiedeln. Wie verändern wir die rechtliche Aufstellung der Gewerkschaften im Hinblick auf neue Investoren. Das ganze ab sofort im direkten erbitterten Wettbewerb mit Flandern.
Fangen wir nicht morgen damit an wird uns die Zeit zeigen wo der Hammer liegt und der Tag sich abzeichnen, wo es Kürzungen in allen Bereichen – auch bei dem Kindergeld – geben muss, um Haushaltspolitisch über die Runden zu kommen.
Die Wallonie hat doch auch deswegen ein schlechtes Image, weil stänidg irgendwo gestreikt wird. Es müsste schon eine Veränderung stattfinden. Streiks dürfen nur das allerletzte Mittel sein, um Arbeitnehmerforderungen durchzusetzen.
Und sie dürften nur dann stattfinden, wenn es vorher eine Abstimmung unter allen Arbeitnehmern des Betriebes gegeben hätte. Das jetzige System halte ich einfach für undemokratisch. Und bei den Gewerkschaften selbst müsste die Mitsprache der Mitglieder verstärkt werden. Müsste so organisiert sein wie bei einer Krankenkasse. Da haben auch die Mitgleider die Möglichkeit für die Generalversammlung zu kandieren. Da jetzige System kann man durchaus als Funktionärsdiktatur bezeichnen.