Am 31. Juli 1993 stirbt König Baudouin völlig überraschend im spanischen Motril. Das Land steht unter Schock. Baudouin war ungemein beliebt, nach über 40 Jahren als König der Belgier hinterlässt er eine klaffende Lücke.
Umso mehr, als sein Tod das Land völlig unvorbereitet trifft. Sein designierter Nachfolger, das ist eigentlich Prinz Philippe, der Sohn von Prinz Albert und Paola. Viele Fachleute und Beobachter hat es denn auch seinerzeit buchstäblich umgehauen, als der Palast plötzlich bekanntgab, dass nicht Philippe, sondern eben doch Albert seinem verstorbenen Bruder nachfolgen werde.
In erster Linie dürfte wohl Albert selbst kaum damit gerechnet haben, jemals den Thron zu besteigen. Das war nie geplant, und für ihn war das wohl auch in Ordnung so ... Im Gegensatz zu dem ernsten und stoischen Baudouin, der zuweilen "Roi triste" genannt wurde, war Albert nämlich der Lebemann, der Hedonist, quasi der Gegenentwurf.
Albert kam knapp vier Jahre nach Baudouin am 6. Juni 1934 zur Welt. Beide haben eine ältere Schwester, Joséphine Charlotte, die 1927 geboren ist, die aber seinerzeit nicht für eine Thronfolge infrage kam. Ein Jahr später verlieren die drei ihre Mutter: Am 29. August 1935 stirbt Königin Astrid bei einem Autounfall im schweizerischen Küssnacht. Am Steuer saß der Vater der Kinder, König Leopold III.
Albert ist kaum sechs Jahre alt, da fällt Nazi-Deutschland in Belgien ein. Am 10. Mai 1940 werden die drei Königskinder buchstäblich über Nacht in einer filmreifen Flucht nach Frankreich, später dann nach Spanien gebracht. Einige Monate später sind sie wieder zurück in Belgien, bis sie 1944 nach Deutschland und danach Österreich gebracht werden.
Und auch nach dem Krieg will keine Ruhe einkehren. Die Belgier werfen König Leopold III. sein Verhalten während des Krieges vor, seine Haltung den deutschen Besatzern gegenüber und auch seine Heirat mit Lilian Baels in aller Stille im September 1941. Das Resultat ist bekannt: 1950 dankt Leopold zu Gunsten von Baudouin ab, der am 16. Juli 1951 den Thron besteigt. Albert ist da gerade 17. Sein Bruder wird König, Albert hingegen kann ein eher normales Leben beginnen.
Und Albert lebt, teilweise auf der Überholspur. Am 2. Juli 1959 heiratet er Paola Ruffo Di Calabria. Es ist eine der ersten Medien-Hochzeiten, die in die Wohnzimmer übertragen wird.
Etwas mehr als ein Jahr später, am 15. April 1960, kommt das erste Kind des Paares zur Welt: Prinz Philippe. Aus ihm wird später der Thronfolger, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Ehe von König Baudouin und Königin Fabiola kinderlos bleiben würde.
Philippe wird früh auf seine künftige Rolle vorbereitet, was Albert in der Überzeugung bestätigt, dass ihm die Bürde wohl nie auf die Schultern geladen wird. Und Albert lässt nichts anbrennen, jettet durch die Welt, durchfährt das Land auf dem Motorrad. Und leistet sich den einen oder anderen Seitensprung. Seiner Frau Paola sagt man im Übrigen dasselbe nach.
An diese Episode ihres Privatlebens werden sich die beiden viel später noch einmal erinnern müssen. Die Jahre ziehen ins Land. Prinz Albert engagiert sich immer wieder auch für die Interessen des Landes. Jahrzehntelang führt er die belgischen Wirtschaftsmissionen im Ausland an.
Bis eben zu jenem 31. Juli 1993. König Baudouin stirbt, Albert wird - entgegen aller Erwartungen - der neue König. Bei der Eidesleistung am 9. August 1993 kommt es übrigens zu einem Zwischenfall: kurz, bevor Albert den Eid auf die Verfassung ablegt, gibt es einen Zwischenruf: "Vive la République d'Europe" ("Es lebe die Republik Europa"). Der Zwischenruf kommt aus dem Mund von Jean-Pierre Van Rossem, einem Anarcho-Politiker, der seinerzeit eine eigene Partei gegründet hatte. "Es lebe der König", rufen daraufhin die Abgeordneten. Senatspräsident Frank Swaelen verurteilt das Verhalten von Jean-Pierre Van Rossem.
Doch hat noch etwas die Menschen seinerzeit irritiert: das seltsame Zittern des Königs im Augenblick der Eidesleistung. Leidet er vielleicht unter der Parkinson'schen Krankheit, fragt sich das ganze Land. Dabei war es wohl nur die Aufregung.
Albert II. ist der erste König des Föderalen Belgien. 1993 war die Zeit der Saint-Michel-Abkommen, der vollständigen Neuordnung des Staatsgefüges - schon eine schwierige Aufgabe für den Routinier Baudouin, aber Albert? Dem trauten viele nicht zu, in die Fußstapfen seines großen Bruders zu treten. Geschweige denn, wenn es darum ging, Neuland zu betreten.
Schon bei seiner Eidesleistung macht er aber klar, dass er um die Herausforderungen weiß. Und Albert findet sich immer besser zurecht. Kontinuität und eigene Persönlichkeit, das wurde zum Markenzeichen. Albert II. zeigt ein ähnliches Interesse wie sein Bruder für Sozialschwache und menschliche Probleme. Er nimmt eine Art Vaterrolle ein. Zugleich bricht er immer häufiger eine Lanze für Europa. Am wichtigsten ist ihm aber das Thema Toleranz, das innerbelgische Zusammenleben, das Aufeinanderzugehen, das gegenseitige Verständnis.
Am 4. Dezember 1999 heiratet Prinz Philippe seine Mathilde. Zeitgleich erscheint ein Buch, in dem der Autor die diversen Seitensprünge von Albert und Paola ausbreitet. Eine Info ist explosiv: König Albert hat eine uneheliche Tochter: Delphine Boël. In seiner Weihnachtsansprache des Jahres 1999 nimmt er indirekt Bezug auf die Geschichte: "Die Königin und ich haben uns in den letzten Tagen an die Krise erinnert, die unsere Beziehung vor mehr als 30 Jahren durchgemacht hat. Wir wollen uns aber nicht näher über diese Episode äußern, die zu unserem Privatleben gehört."
Wenn er es auch nicht will, die Geschichte verfolgt ihn - bis heute. Delphine Böel will gerade erst vor Gericht den Beweis erstreiten, dass sie wirklich die Tochter des Königs ist. Seiner Popularität tut das seinerzeit aber erstmal keinen Abbruch. Albert II. wird mit jedem Jahr populärer. 2003 steigt in Brüssel eine riesige Feier zu Ehren des Königs. Sichtlich gerührt bedankt er sich beim Publikum für die Sympathie und die Wärme, die ihm entgegenschlägt. "Es lebe Belgien", ruft der König. Und, auf die Auftritte der zahllosen belgischen Künstler anspielend, stellt er auf Niederländisch die Frage: "War das belgisch?" Auf Französisch die Antwort: "Ja, das war belgisch ..."
Belgisch sind aber auch die immer wiederkehrenden politischen Krisen. 2008 und später dann 2010 gab es die komplizierteste Krise seit Jahren, um nicht zu sagen in der Geschichte des Landes. Bei seiner Rede zum Nationalfeiertag am 21. Juli 2011 schlägt König Albert mit der Faust auf den Tisch - und das im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist ein flammender Appell, dass sich beide Seiten, Flamen und Frankophone, doch bitte endlich kompromissbereit zeigen sollen. Der wahre Mut bestehe darin, Lösungen zu suchen, die verbinden, statt die Widersprüche zuzuspitzen.
Die noch vergleichsweise sanften Worte werden durch eine eindeutige Körpersprache untermauert: Der Mann ist sauer. Später werden die beteiligten Politiker sogar zugeben, dass es tatsächlich die Brandrede des Königs war, die die Parteien dazu gebracht hat, Wasser in ihren Wein zu gießen. Es kommt jedenfalls Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen. Einige Monate später stehen eine neue Regierung und die sechste Staatsreform.
Die acht beteiligten Parteien legen gerade letzte Hand an diese Neuordnung des Staates. Die Krise ist damit aber vielleicht auch nur auf Eis gelegt. Nicht nur in Belgien, in ganz Europa werden Parteien, die vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Probleme parat haben wollen, immer stärker. In seiner Weihnachtsansprache Ende letzten Jahres warnt Albert II. vor den Gefahren des Populismus und zieht Vergleiche mit den 30er Jahren. Dafür handelt sich der König die Kritik insbesondere der flämischen Nationalisten der N-VA ein.
Bei allem Engagement wirkte der König in letzter Zeit zunehmend müde. Seine Gesundheit hat ihm in den vergangenen Jahren immer wieder Streiche gespielt. Herz-OP, Beinbruch, Tumor an der Nase, zudem ständige Rückenprobleme. Immer häufiger sah man den König mit Gehstock. Gerade deswegen hatten sich in letzter Zeit die Gerüchte verdichtet, der König könnte auf den Thron verzichten.
Und doch ist die Meldung am Mittwoch irgendwie wie der Blitz eingeschlagen. Vielleicht, weil man die Ankündigung doch später erwartet hätte. Aber der Augenblick ist eher günstig. Falls sich die Befürchtungen bestätigen, und nach der Wahl im kommenden Jahr eine Neuauflage der Krise kommt, dann wäre der König wieder vielleicht für Monate im Goldenen Käfig gewesen. "Jetzt oder nie" - und König Albert II. hat sich für das "jetzt" entschieden.
Bild: belga
Glückwunsch, gute Sendung heute!
Warum nicht König Balduin?
In der umfangreichen Berichterstattung, den vielen (offiziellen) Mitteilungen und Kommentaren zum Rücktritt von König Albert II. ist auch oft die Rede von seinem Vorgänger König Balduin – hierzulande aber (fast) immer Baudouin genannt. Warum eigentlich?. Es müsste doch selbstverständlich sein, dass die Menschen der verfassungsmäßig anerkannten deutschsprachigen Gemeinschaft ihr Staatsoberhaupt in ihrer Sprache benennen. Der Name Balduin ist außerdem der einzig korrekte. Das Belgische Staatsblatt vom 1. August 1993 veröffentlicht die Todesanzeige König Balduins in drei Spalten für die 3 Sprachen: Baudouin – Boudewijn – Balduin. Das Staatsblatt vom 3. August 1993 veröffentlicht in derselben Form „das Protokoll des Todes Seiner Majestät des Königs Balduin…“ Offizieller geht’s wohl nicht! Keinem Wallonen würde es einfallen, vom „Koning Boudewijn“ zu reden, keinem Flamen vom „Roi Baudouin“. Warum gilt diese Selbstverständlichkeit nicht auch für die Deutschsprachigen (und auch für die „König Balduin Stiftung“)?
Gerhard Palm
Mürringen