Ein seltsames Klima also, dem die Gewerkschaften mit ihrem Aufruf zum Generalstreik am Ende noch die Krone aufgesetzt haben.
Was für ein Chaos! "Hypothekendarlehen nicht mehr von der Steuer absetzbar", steht fettgedruckt noch morgens in der Zeitung. Die Meldung ist nicht aus der Luft gegriffen: die Journalisten können sich auf einen föderalen Staatssekretär berufen. Mittags in den Fernsehnachrichten dann: Entwarnung, diesmal aus dem Mund von Vertretern der Regionalregierungen. Keine Panik: Die Regionen übernehmen zwar die Zuständigkeit, an der steuerlichen Absetzbarkeit laufender Kredite wird sich aber nichts ändern.
Was soll das? Warum diese Panikmache? Zumal jeder Politiker in Belgien es doch besser wissen sollte, wie es noch die Zeitung Het Laatste Nieuws auf den Punkt brachte: "Wer die Belgier nicht auf die Palme bringen will, der muss drei Gesetze beachten: Finger weg von den Pensionen, Finger weg vom Auto und Finger weg vom Haus".
Eine Information, wonach selbst laufende Hypothekendarlehen urplötzlich nicht mehr von der Steuer absetzbar sein sollen, die sorgt - und da kann man die Uhr nach stellen - in der nächsten Sekunde für einen Sturm der Entrüstung. Warum werden die Bürger hier mit solchen Meldungen buchstäblich kirre gemacht, mit Informationen, die mitunter ihre gesamte Finanzplanung über den Haufen werfen, die sogar den Traum von den eigenen vier Wänden quasi am Frühstückstisch zerplatzen lassen können?
Ein solches Tohuwabohu will doch eigentlich jeder Politiker um jeden Preis vermeiden.
Also: Was ist da los?
"Willkommen in Absurdistan!", so lautet die Antwort. Denn man muss sagen, wie es ist: Im Augenblick weiß mitunter tatsächlich niemand, was Sache ist. Niemand! Und das kann auch noch eine Weile dauern - solange nämlich, bis die Staatsreform in die Tat umgesetzt wurde. Das eigentliche Abkommen zur Staatsreform, das ist nämlich nur die halbe Miete. In einer ganzen Reihe von Punkten gibt es bislang nur Grundsatzeinigungen. Die genaue praktische Umsetzung, darüber soll mitunter erst bei der Abfassung der eigentlichen Gesetzestexte entschieden werden. Man fühlt sich da an einen alten DDR-Witz erinnert: Was ist der Unterschied zwischen Marx und Murks? Marx ist die Theorie!
Im Augenblick ist es also so: Die Föderale Ebene sagt: Wir sind bald nicht mehr zuständig; wendet Euch an die Regionen! Die Regionen wiederum können noch gar nicht wissen, was da im Einzelnen auf sie zukommt, weil ihnen die Texte noch nicht vorliegen.
Schönes Durcheinander
Schönes Durcheinander also, das mitunter seltsame Blüten treibt. Die Nationalistische N-VA, für die die Staatsreform ja quasi der einzige Programmpunkt war, warf der föderalen Ebene plötzlich sinngemäß vor, das ganze Chaos produziert zu haben. Wie bitte? lachten die Mehrheitsparteien von den Rängen der Kammer? Ausgerechnet die N-VA wirft uns die Folgen der Staatsreform vor? Das soll wohl ein Witz sein! Man könne nicht alles verlangen und das genaue Gegenteil, frotzelte Premier Elio Di Rupo...
Naja, apropos N-VA: Die sitzt im Moment ohnehin im Glashaus und produziert auf flämischer Ebene schon selbst Chaos genug. Im Fokus: der flämische N-VA-Haushaltsminister Philippe Muyters. In einer E-Mail, die aus seinem Kabinett durchgesickert ist, steht eine Reihe von Unsäglich- und Nettigkeiten. Da steht zum Beispiel ausdrücklich zu lesen, dass man das Parlament wissentlich belogen hat: Es gibt Politiker, denen man schon für weniger den Rücktritt nahegelegt hat. Zudem werden in der elektronischen Post des N-VA-Ministers die Kollegen aus dem Unterrichtsministerium wenig kollegial als "smeerlappen" bezeichnet, als "Mistkerle". Muyters trat daraufhin mit Tränen in den Augen vor die Kameras und jammerte -man könnte auch sagen: er "wulfte"-, er sei das Opfer einer Hexenjagd.
Chaos auf allen Ebenen
Diese flämische Episode mag ein Indiz dafür sein, dass mit jedem Tag, wo die föderale Koalition näher zusammenrückt, die flämische Mehrheit brüchiger wird, an der ja auch die N-VA beteiligt ist. Eins ist sicher: Der Ton, gerade in Flandern, scheint noch rauer zu werden, als er es ohnehin schon war.
Chaos auf allen Ebenen also. Man muss kein Anthropologe sein, um die Wirkung von all dem Theater auf die Bürger zu erahnen: "Ohne Regierung ging's uns besser", mag sich der eine oder andere gesagt haben angesichts von Rentenreform, Hypothekenchaos und verbalen Massenschlägereien im Parlament.
Zumal das ja wohl nur der Anfang ist. Die Regierung gibt augenscheinlich Vollgas, will bis zum Ende der arg verkürzten Legislaturperiode ja noch möglichst viel bewegen. Und da wartet wohl noch die eine ohne andere schlechte Neuigkeit auf die Bürger, die sich nicht im Nachhinein als Kommunikationspanne erweist, sondern wirklich eine ist. Stichwort Haushaltskontrolle, die ja Ende Februar stattfinden soll und wo wohl eine neue Sparrunde ansteht. Rund drei Milliarden Euro müssen anscheinend zusätzlich aufgebracht werden, um den Haushalt in der Spur zu halten. Das wird wehtun. Die Regierung wäre also gut beraten, ihre Glaubwürdigkeit und ihre Legitimität nicht durch Kommunikationskapriolen und Fehlalarme unnötig zu verspielen.
Die Regierung muss schnellstens ihre Patzerfrequenz nach unten schrauben, ohne Frage! Auf der anderen Seite kann man aber einem Parkettschleifer nicht vorwerfen, dass er Holzstaub produziert. Belgien wird gerade im Eilverfahren umgebaut. Dass da von Zeit zu Zeit auch mal ein Möbelstück einen Kratzer abbekommt, muss man in Kauf nehmen. Die Renovierung war überfällig - und prinzipiell ist es gut, dass da jetzt Bewegung hineinkommt. Klar werden die Maßnahmen, die da wohl noch in der Rue de la Loi durch den schnellen Brüter gehen dürften, für mitunter noch viel Zank und Zähneknirschen sorgen. Es wurde aber allerhöchste Zeit, dass sich etwas bewegt. Wenn man Milde walten lässt, dann kann man hier die Binsenweisheit bemühen: "Nur wer nichts tut, macht keine Fehler".
Wem das alles zu schnell geht, wem das zu viel Veränderung ist, dem bleibt ja noch ein Fixstern am belgischen Himmel, ein fester Wert, auf den Verlass ist: Die Gewerkschaften haben für den 30. Januar zum Generalstreik aufrufen...
Hallo Herr Pint,
Früher habe ich es Ihnen schon gesagt - heute schreibe ich es gerne erneut: Kompliment für Ihre Kommentare! Die inhaltliche Tiefe und die geschliffene Formulierung stehen wohltuend im Gegensatz zu der erbämlich oberflächlichen Banalität vieler Berichte und Kommentare.
Darf ich Ihnen eine Anregung geben für die Fortsetzung zum Thema "Sparmaßnahmen in Absurdistan"? Seitdem der Bundesstaat Belgien sich auf Regionen und Gemeinschaften aufbaut, ist nichts so überflüssig wie die Ebene der Provinzen. Die Provinzialräte, die Provinzkollegien (die Permanentdeputierten mit einem Gehabe wie Louis XIV) und ihre Verwaltung..., alles das ist so nötig wie 14 Tage lang Zahnschmerzen. All diese Aufgaben können von bestehenden regionalen oder gemeinschaftlichen Gremien übernommen werden. Ganz sicher gilt dies für die DG.
Nur: egal welche Farbe in Brüssel, Namür oder Lüttich am Ruder ist - weder rot noch grün noch schwarz noch blau, niemand will diese längst überfällige Sparmaßnahme (weil Vereinfachung) anpacken. Erstaunlich dabei ist: kein Journalist greift dieses Thema auf, keine Gewerkschaft streikt dagegen, kein Bürger meldet sich zu Wort, wenn er die Immobiliensteuer an die Provinz zahlt (für die DG macht dies 10 Millionen Euro jährlich...).Und dann noch - als i-Tüpfelchen - die "Steuer auf provinziale Aktionen"!!!! Man stelle sich mal so etwas in der DG vor - nicht auszumalen! Die Zeitung müsste eine Sonderausgabe für Protest- Leserbriefe und bissige Kommentare herausbringen! - Aber all das könnten Sie viel besser auf den Punkt bringen.
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Palm
Die Meinung von H. Gerhard Palm teile ich zu 100 %: was die Qualität der Kommentare von Herrn Pint angeht sowieso, ganz besonders aber seinen Hinweis betr. die überflüsssigen Provinzen. Klar, diese Erkenntnis ist nicht neu und inzwischen sind viele Bürgerinnen und Bürger überzeugt, dass dieses Land ohne diesen Klotz am Bein bestimmt nicht schlechter funktionieren würde. Leider dauert es viel zu lange bis sich etwas bewegt. Zzt. überlegt man, wie die Provinzen "bürgernäher" handeln könnten (bspw. wurde ein Salzlager für interessierte Gemeinden eingerichtet...).
Da die Aufösung der Provinzen (leider) auch morgen noch nicht auf der Tagesordnung der Regierung steht gibt es für uns nur eine Devise: die schnellstmögliche Übertragung der Zuständigkeiten der Provinz an die Deutschsprachige Gemeinschaft auf dem Weg zur Vierten Region! Man kann es nicht oft genug wiederholen.
Georg Kremer: "die schnellstmögliche Übertragung der Zuständigkeiten der Provinz an die Deutschsprachige Gemeinschaft auf dem Weg zur Vierten Region! Man kann es nicht oft genug wiederholen."
Warum tut sich da eigendlich nichts? Wenn ein wallonischer Vertreter einer Partei seine Parteifreunde der DG besucht, meldet das Grenz-Echo am nächsten Tag meistens, dass dieser Vertreter voll hinter den Forderungen der DG in bezug auf Provinz usw. steht. Wenn alle dahinterstehen, müsste dass ja schon lange Realität sein.
Einen Gesetzesvorschlag zur Schaffung einer eigenen Provinz und einer eigenen Region für die Deutschsprachigen hat es übrigens im Jahre 1996 schon einmal bis ins föderale Parlament gebracht.
Leider bekam der Autor dieses Gesetzesvorschlages keine Unterstützung aus der DG...
Deshalb frage ich mich: "Wie seriös sind die Forderungen der DG in puncto Provinz und Region wirklich?" Ist man nur bereit, gewillt und in der Lage dies zu fordern, oder ist man sogar bereit, gewillt und in der Lage wirklich all die neuen Zuständigkeiten zu übernehmen?
Selten ein solches Eingeständnis von politischer Ohnmacht gesehen, wie diese Zeilen von Herrn Palm/ProDG. Als Koalitionspartner eines MP, dessen Partei PS in den wallonischen Provinzen wahrscheinlich die Mehrzahl der sinnlosen Posten eines Provinzailrats besetzt (und dabei vor allem die eines Permanentdeputierten), wendet sich an einen Journalisten - statt an seinen MP, an dessen Partei PS und an die Partei seines Parlaments-Präsidenten/MR, um diesen Zustand anzuprangern und zu verändern. Diese Problematik gehört aber eigentlich in jede DG-Koalitionsverhandlung, in jede Regierungs- und PDG-Sitzung. Vor allem bei letzterem wäre Ihnen jedes Mal ein Medien-Echo sicher, Herr Palm! Man schaue sich als Beispiel nur mal die regelmäßige und hartnäckige Nachfrage von Ecolo nach den Reisekosten unserer Minister bei den Fragestunden im PDG an...
Der Grund für Ihren Misserfolg, Herr Palm, liegt auf der Hand: die wallonischen Mutterparteien - die PS, die MR, die cdh und z.T. auch Ecolo - sind die wahren Bremser bei der Abschaffung bzw. Übertragung der Provinzzuständigkeiten! Es ist wie bei den politisch besetzten Aufsichtsräten: man kann auch dort noch ein paar entlohnte Pöstchen für Parteimitglieder schaffen, die es in andere Parlamente und Exekutiven nicht geschafft haben.
Zur Abschaffung einiger weniger dieser Pöstchen hat man sich ja vor kurzem, unter dem zunehmenden Druck aus der Bevölkerung (nicht aus den Parteien!), durchringen können. Aber nun soll auch wieder Schluss sein, wie aus den Festtagsreden dieser Herrschaften deutlich herauszuhören ist. Die Abschaffung der Provinzen ist also - mindestens - für das nächste Jahrzehnt von der Tagesordnung. Für die Abtretung der Provinzbefugnisse an die DG bleibt aber noch Raum und dabei ist in erster Linie die wallonische SP Ihres MP entscheidend. An dieser Stelle sollten Sie mal "schlüsseln", Herr Palm. Dass DiRupo, Demotte und Giet den BRF hören, das ist nämlich eher unwahrscheinlich... Der Unterstützung der hiesigen Bevölkerung und Entscheidungsträger können Sie dabei sicher sein. Die Provinzen sind nämlich so überflüssig wie ein Kropf, und dies ganz besonders für die DG!
Aber versprechen Sie sich keine Wunder von den speziell von Ihnen visierten 10 Mio Euro, denn die haben Sie, die DG-Regierung, ja schon - fast - im Voraus ausgegeben. Mit Schuldenmachen kennen die sich ja aus. Mir ist nicht bekannt, ob die Provinz auch Schulden hat. Ich hoffe trotzdem, dass Sie dann nicht auch noch die Tour de France in die DG bringen. Möglich wäre das ja, wegen der Werbewirkung für die DG und für den Ausbau des viel gerühmten Netzwerks unseres MP...
Zu Ihrer Information, herr Bosch, ein Auszug aus unserem Programm von 2009:
"suppression des provinces, parallèlement à la mise sur pied de ces communautés de communes et au transfert des moyens et missions vers d’autres niveaux de pouvoir"
Wenn das dann trotz Mehrheitsbeteiligung nicht zustande kommt, dann liegt das nicht an den Grünen.
In einer Koalition darauf zu bestehen, alles zu bekommen, führt dazu, dass man nichts bekommt.
Stattdessen wurde von den Partnern Folgendes vereinbart:
"Afin de simplifier le paysage institutionnel situé entre la Région et la commune,
le Gouvernement réformera l’institution provinciale pour la faire évoluer, à terme
et après révision de la Constitution, en communauté de territoires adaptée
comme entité de gestion des intérêts supra-communaux, de pilotage politique
des intercommunales, de soutien aux politiques communales et de
déconcentration de missions régionales et communautaires dans le cadre des
stratégies établies par la Région et/ou les Communautés."