Antipolitik im Kindergarten – Ein Kommentar

Die meisten Bürger dieses Landes haben derweil nur noch Kopfschütteln übrig angesichts des einfach nicht enden wollenden Theaters. Weil das vollkommen nachvollziehbar ist, weil die Politik hier letztlich ihre Unfähigkeit unter Beweis stellt, die Probleme des Landes anzugehen, ist das für die Demokratie in diesem Land jetzt wirklich zu einer Gefahr geworden.

Was soll das? Ist den Parteien inzwischen auch das letzte Fünkchen Vernunft abhandengekommen?

Die Brüsseler Politik erinnert mehr und mehr an das Verhalten einer apokalyptischen Sekte, die auf das ersehnte Kommen von Außerirdischen wartet, die sie dann in ein interplanetares Paradies befördern. Liebe Damen und Herren Sozialisten, Christdemokraten und Liberale: Es wird keine fliegende Untertasse im Brüsseler Park landen, um Sie auf einen fremden Planeten zu bringen! Sie werden wohl doch Verantwortung übernehmen müssen.

Alles dreht sich um Verantwortung

Jedenfalls nicht um die Frage, wer das Debakel nun schuld sein soll. Ganz davon abgesehen, dass das schwer zu beurteilen ist. Denn: Nichts ist prinzipiell so, wie es scheint.

Haben da nun die Liberalen einen ideologischen Bad-Trip hingelegt, um sich gegenüber der N-VA zu profilieren, die sich ja auch betont wirtschaftsliberal aufstellt. Hat die OpenVLD ihr Blatt überreizt, einmal zu oft Nein! gesagt? Hat Alexander De Croo wiedermal das getan, was er angeblich am besten kann, nämlich: den Stecker rausgezogen?

Oder will man vielleicht doch nur, dass es so aussieht? Warum haben allen voran die PS-Oberen viel zu früh herumposaunt, ein Abkommen sei in greifbarer Nähe. Einschätzungsfehler? Kommunikationspatzer? Drohkulisse?

Andere Frage: Könnte es nicht auch sein, dass Elio Di Rupo das letzte Quäntchen Biss fehlt? In den letzten Tagen waren in der Presse –und das auf beiden Seiten der Sprachgrenze- Zweifel daran laut geworden, dass der smarte PS-Chef wirklich den Posten des Premiers absolut hundertprozentig will. Das Büro in der Rue de la Loi Nummer 16 muss man sich erobern. Jedenfalls schafft es nur ein entschlossener Premieranwärter, die anderen mitzuziehen, alle gemeinsam über ihre Interessen zu stellen.

Apropos Interessen: Man mag sich auch die Frage stellen, warum man den Liberalen das verwehrt, was man der CD&V erlaubt hat. Als es um die Staatsreform ging, hat man den flämischen Christdemokraten ein Bettchen gemacht und auch noch eine Wärmflasche hineingelegt. Weil, das hatte man gelernt: Ein Abkommen hat man erst, wenn alle einverstanden sind. Ab wann gilt das nicht mehr? Dem muss man entgegenhalten: Die Liberalen haben die Basisnote von Elio Di Rupo Anfang Juli akzeptiert. Sie um 180 Grad drehen zu wollen, ist unrealistisch und zudem unlauter.

Wer ist schuld? Ist der junge OpenVLD- Chef nun ein notorischer politischer Amokläufer? Fehlt es dem Regierungsbildner an letzter Entschlossenheit? Ist die jüngste Dramatisierung eine reine Inszenierung? Das sind Fragen. Keine Antworten. Denn, wer will sich schon zum Richter aufschwingen?

Im Endeffekt spielt das ohnehin keine Rolle, haben sich die Partner ohnehin geschnitten, wenn sie glauben, am Ende mache da noch irgendwer den Unterschied zwischen den bösen Schuldigen und den armen Opfern. "Alle unfähig", brüllt inzwischen der ganze Marktplatz. Und man hat nicht wenig Lust, sich dem anzuschließen. Denn irgendwann ist das Maß voll.

Gang zum König wird Reflex

Dass die Staatsreform ein dicker Brocken war, das konnte man ja noch mit einem bisschen guten Willen nachvollziehen. Dass auch das Budget 2012 ein hartes Stück Arbeit würde, war ebenfalls vorhersehbar. Dass das aber gleich wieder zu einer Hyperdramatisierung führen musste, mit allen Zutaten: Krise, König, Konsultationen, das geht zu weit.

Der Gang zum König wird zum Reflex, ob der sich nun von einer OP erholen muss, oder nicht. Um es mal zynisch auszudrücken: Bei der nächsten Krise - und die wird kommen - wird man den armen Mann womöglich noch aus der Narkose aufwecken müssen. Dafür, dass so mancher den König bis vor kurzem noch zum Blumentopf degradieren wollte, scheint ohne diese Pausentaste inzwischen gar nichts mehr zu gehen. Gerne wurde da in diesen Tagen das Bild des Kindergärtners bemüht, der einschreiten muss, wenn die Steppkes sich mal wieder streiten, wer denn nun wem das Schäufelchen zuerst weggenommen hat.

Hier stellt sich eine ganze Politikergeneration das wohl ultimative Armutszeugnis aus. Und das ist noch diplomatisch ausgedrückt. Was in Brüssel läuft, das ist der helle Wahnsinn! Unerhört! Kriminell! Unverantwortlich! Suizidär! Armselig! Unterste Schublade! Nach anderthalb Jahren Dauerkrise und einem inflationären Gebrauch an Superlativen fehlen einfach die Worte.

Wie der Geisterfahrer, der felsenfest glaubt, auf der richtigen Spur zu sein, sehen die Parteien offensichtlich weiterhin keinen Handlungsbedarf - es gibt keinen "sense of urgency". Die Eurozone brennt. Ein Land nach dem anderen stürzt in den Abgrund. Regierungen, ganze Volkswirtschaften werden von der Krise weggefegt. Und hierzulande starren die Parteien weiter auf ihren Nabel, haben Angst, sich unbeliebt zu machen. Und scheinen nur darauf zu warten, dass ihnen das Schicksal die Arbeit abnimmt, nach dem Motto: "Ach wie schön wäre es doch, wenn der IWF oder die EU Belgien unter Vormundschaft nähmen; dann wären wir aus der Sache raus".

Die Richtigen sitzen am Tisch

Dabei sitzen eigentlich die Richtigen am Tisch. Denn: Es sind eben diese drei politischen Familien, die in den letzten Jahrzehnten quasi exklusiv die Geschicke dieses Landes gelenkt haben. Wenn's da zugegebenermaßen auch äußere Faktoren gibt: Im Wesentlichen haben Sozialisten, Liberale und Christdemokraten diesen Scherbenhaufen zu verantworten. Dass sie sich jetzt aus der Verantwortung stehlen wollen, ist umso armseliger.

Doch ist es zudem wohl ein Armutszeugnis mit Folgen. Kurzfristig haben sich die Parteien selbst quasi jeglicher Legitimität beraubt. Wenn es dann doch irgendwann mal einen Haushalt gibt, der die zu erwartenden Sparmaßnahmen enthält, wie will man den Bürgern das verkaufen. Nach dem Motto: "Jetzt muss jeder Verantwortung übernehmen"! Da kann man doch nur lachen. Eine Politikerkaste, die durch Unfähigkeit glänzt, ist eigentlich nicht mehr in der Position, von den Bürgern zu verlangen, ihren Mann oder ihre Frau zu stehen.

Mittel- bis langfristig hat das aber –man mag's kaum denken- vielleicht noch viel desaströsere Folgen. Die belgische Politik hat ihre eigene Weimarisierung auf die Spitze getrieben. Was, bitte schön, soll man denn heute noch jemandem entgegnen, der die Ansicht vertritt, dass die Demokratie unfähig ist, die Probleme der Menschen zu lösen? Indem sich die Parteien aus der Verantwortung stehlen, ebnen sie den Weg für Rattenfänger, für politische Experimente, die schon einmal in die Katastrophe geführt haben.

Während Sozialisten, Christdemokraten und Liberale sich gegenseitig den schwarzen Peter zuschustern, laufen sie längst Gefahr, sich alle gemeinsam einen ganz anderen Platz in der Geschichte zu verdienen: den der Totengräber des Landes und seiner Demokratie.