Belgien verhält sich derzeit wie ein starrsinniger Geisterkranker, der immer noch nicht versteht, warum man ihn weggesperrt hat. Schließlich ist doch der Rest der Welt verrückt. Wie kann man nur, direkt oder indirekt, davon ausgehen, dass eine reguläre Regierung Luxus ist? Wie kann man nur dermaßen den eigenen Nabel im Fokus haben, dass man nicht merkt, dass man seit Monaten mit dem Kopf gegen die Wand läuft?
Eben erst ist wieder Griechenland ins Schleudern geraten, eben erst hat eine Rating-Agentur erstmals in der Geschichte eine Warnung an die USA gerichtet, eben erst stand eine Frage im Raum, die vor kurzem noch geradezu außerirdisch erschien: Sind die USA überhaupt noch zahlungsfähig? Und wie lange noch?
"Alles weit weg!", scheint man in Belgien all diese Omen als bloße Irrlichter abzutun. Nur muss man nicht mal in die Ferne schweifen, wenn das Ungemach liegt so nah. Hat nicht im Dezember die Rating-Agentur Standard&Poors Belgien damit gedroht, die Kreditwürdigkeit herabzustufen, falls das Land nicht endlich einen Ausweg aus der Krise findet? Wenn das eintreten würde, dann würden automatisch die Zinsen für die Staatschuld steigen. Bei einer Gesamtschuld von 340 Milliarden Euro ist selbst ein Zehntel-Prozentpunkt kein Pappenstiel. Stichdatum für die Entscheidung ist offenbar der 10. Juni.
"Aber wer ist schon Standard&Poors?", scheint man sich in Belgien zu sagen. Nach dem Motto: Das ist so abstrakt, damit lockt man keinen Wähler hinterm Ofen hervor. Genau das ist das Problem: In diesem Land scheinen inzwischen viel zu viele Leute zu glauben, der eigene Belfried sei mit Sicherheit genauso schön wie der Eifelturm. Provinzialismus ist Trumpf. Wenn etwa der chinesische Präsident Hu Jintao Washington besucht, dann ist das den großen belgischen Medien allenfalls eine Meldung "unter ferner liefen" wert. Und das gilt im Wesentlichen für alle. Umgekehrt wird Sublokales immer häufiger zum großen Aufmacher.
Da darf es dann auch nicht verwundern, wenn Fukushima hierzulande kein Thema ist. "Weit weg! Tsunamis gibt's hier nicht! Punkt!". Welcher Kontrast zu Deutschland, wo die japanische Reaktorkatastrophe gerade eine Energiewende heraufbeschwört. In ihrer Intensität mag vielleicht die deutsche Diskussion etwas überhitzt anmuten. Nur ist das immer noch besser als totale Apathie.
In Belgien ist die Atombranche nur deshalb in den Blickpunkt gerückt, weil man sich in Zeiten leerer Kassen darauf besonnen hat, dass man es Electrabel viel zu lange viel zu leicht gemacht hat, sich eine goldene Nase zu verdienen. Wenn jetzt jeden Tag von der famosen "rente nucléaire", also dem "Atomertrag" die Rede ist, dann aber wirklich nur aus haushaltspolitischen Gründen. Mit einer wirklichen, langfristigen Energiepolitik hat das gar nichts zu tun. Dass Electrabel ein Quasi-Monopol und mit Sicherheit kaum ein Interesse daran hat, überhaupt für Alternativen für Atomstrom zu sorgen: "Ist nunmal so!". Auf die Idee, die von Electrabel entrichtete Atomabgabe in die Förderung neuer Energiequellen zu stecken, ist man auch nicht gekommen. Die Diskussion über den Energiemix hört auf, bevor sie überhaupt beginnt: "Wir können nicht ohne Atomkraft. Punkt!". Resultat: In Deutschland etwa wird über die Ära "Nach Fukushima" diskutiert, in Belgien herrscht allenfalls die Maxime "Nach uns die Sintflut".
Zum Provinzialismus gesellt sich hier falsch verstandener Pragmatismus. Genau dieses gefährliche Gemisch hat das Land dahin gebracht, wo es jetzt steht. Es gilt offensichtlich immer noch die Dehaensche Devise: "Man muss die Probleme dann lösen, wenn sie sich stellen". Daraus ergibt sich schnell: "Warum eine Regierung bilden, wenn's doch läuft?" Oder: "Warum über den Energiemix der Zukunft nachdenken, wenn Elektrorasierer und Fön noch funktionieren?".
Allerdings: Man darf Pragmatismus nicht mit Sichtflug verwechseln. Hier hat eine ganze Politiker-Generation offensichtlich die Zeichen der Zeit nicht erkannt, oder besser gesagt: hat nicht gemerkt, dass besagter Pragmatismus nicht immer eine Tugend ist. Pragmatismus hieß viel zu lange: "Wenn's nicht reicht, dann machen wir eben Schulden".
Diese Zeiten sind vorbei. Die Schuldenfalle, in der die westlichen Staaten stecken, ist zu einer veritablen Knacknuss, einem, wie es heute heißt, "systemgefährdenden" Problem geworden. Wer glaubt denn allen Ernstes noch, dass die westlichen Staaten mit ihrer alternden Bevölkerung die unglaublichen Schuldenberge, auf denen sie sitzen, irgendwann nochmal abtragen können? Auf Belgien bezogen: Wie soll ein Land mit einer Staatschuld von knapp 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in absehbarer Zeit die Schulden abbauen und zugleich die Pensionen bezahlen? Ohne schmerzhafte Einschnitte wird das nicht gehen! Das ist nur ein Beispiel für gleich eine ganze Latte von "strukturellen Herausforderungen". Und diese Probleme kann man nicht lösen, wenn sie sich stellen - dann ist es zu spät.
Jenen, die sich von der derzeit zugegebenermaßen erstaunlich guten wirtschaftlichen und haushaltspolitischen Gesundheit des Landes blenden lassen, sei ein Zitat aus der "Süddeutschen Zeitung" mit auf den Weg gegeben: "Die Geschichte lehrt, dass angeschlagene Systeme auf den Betrachter sehr lange Zeit stabil wirken können. Später kommt der Kollaps unerwartet schnell und heftig".
Und wenn's müßig ist: Es wird Zeit, höchste Zeit, dass sich die Brüsseler Politik besinnt, ihre Nabelschau und Sandkastenquerelen beendet. Aber was will man von einem Land erwarten, in dem der Begriff "Vision" allenfalls gleichgesetzt wird mit dem Ausblick auf den eigenen Kirchturm?
Ich finde Ihre Kommentare stets sehr treffend. Leider werden Sie hier kaum kommentiert - während dessen sich 20 Leute beteiligen, wenn es um die AS Eupen geht. Das beweist einmal mehr den Provinzialismus gepaart mit dem Pragmatismus, den Sie ansprechen. Angst um eine Spaltung des Landes braucht man genau deswegen aber nicht zu haben. Wer soll denn diesen Elan aufbringen, der für solch einer Reform nötig wäre? Viel zu mühseelig.."klappt doch alles auch so irgendwie, und hauptsache mein Verein spielt 1.Liga". Belgien wird so die nächsten 100 Jahre noch ein langweiliges Fleckchen Erde bleiben, aber so lange sich die Belgier selbst nicht daran stören und es den allermeisten gut geht, ist dies vielleicht auch garnicht verkehrt. Politisch wird man hoffen, dass die EU einem den meisten Ballast abnimmt, der Rest regeln die kommunalen Bürokratieapparate.
Das geht so lange gut wie das Leben in Begien bezahlbar bleibt. Aber leider haben wir hier - auch Dank eines völlig ineffizienten Regierungsapparates - jetzt schon eine der höchsten Steuerlasten Europas. Wenn die Märkte Vertrauen darin verlieren das Belgien seine Probleme lösen kann, wird die Zinslast auch schnell steigen und dann sind 100% Staatsverschuldung die Eintrittskarte in den Club der Griechenlands, Irlands und Portugals. Was dann mit Steuern (rauf) und Versorgunsleistungen (runter) passiert kann man sich ausmalen. Wir haben alle unseren Anteil daran, schließlich wählen wir ja die Politiker, die das Land gerade vor die Wand fahren.
Werter Herr Pint, dieser Kommentar könnte nicht treffender sein.
Aber das Volk wehrt sich ja auch nicht dagegen. Diese Politiker sind von uns gewählt worden, um das Land zu regieren und zu reformieren.
Doch was geschieht seit fast einem Jahr? Nichts! Alles blockiert.
Man müsste den dafür verantwortlichen "Volksvertretern" das Gehalt streichen, bis sich endlich etwas in Bewegung setzt. Dann wundert man sich über die Politikverdrossenheit der Leute. Wie soll die Jugend sich auch noch für Politik interessieren bei solchen Vorbildern? Das Volk hätte die Macht, damit sich langsam etwas tut. Es fehlen noch die richtigen Anführer, welche die Menschenmassen mobilisieren könnten, um diesen Herren und Damen mal richtig Druck zu machen.