"Einschusslöcher in der Fensterscheibe einer Schulklasse. Für mich ist das Maß jetzt voll". Jean Spinette, der Bürgermeister von Saint-Gilles ist geschockt. In einer Schule in seiner Gemeinde waren in der vergangenen Woche zwei Kugeln eingeschlagen. Eine traf den Fensterrahmen des Sekretariats, die andere steckte in der Doppelverglasung eines Klassenzimmers der Gemeindeschule "Les 4 Saisons".
Das waren wohl Querschläger: Nicht das Gebäude selbst war das Ziel, sondern da hatten sich wohl in unmittelbarer Nähe rivalisierende Drogenkriminelle gegenseitig beschossen. Die Schule grenzt an die Place de Bethléem, und da kann es schonmal heiß hergehen. Der Vorfall hatte sich um 3:00 Uhr in der Frühe ereignet, also unmittelbare Gefahr für die Schüler und das Personal bestand da nicht.
"Das ist aber ein schwacher Trost", sagte Spinette in der RTBF. Hier stelle sich so eine Form von kruder "Normalität" ein, eine Banalisierung. "Aber man kann es doch nicht als 'normal' bezeichnen, wenn Schulkinder eines Morgens feststellen müssen, dass eine Kugel in ihrem Klassenfenster eingeschlagen hat. Das ist doch einfach nur surrealistisch."
Im Grunde war Spinette aber schon selbst in diese "Banalisierungs-Falle" getappt. Und zwar, als er in seiner Eigenschaft als Bürgermeister die fragliche Schule besucht hatte. Zusammen mit zwei Beamten der lokalen Polizei hatte er das Gespräch mit Schülern und Lehrkräften gesucht. Nachdem er die Menschen also zu beruhigen versucht hat, ging er zu Fuß zum Gemeindehaus zurück. Und auf dem Weg dahin sah er wieder die jungen, aufdringlichen Dealer an der Straße stehen. Und da habe er sich plötzlich gedacht: "Wie absurd ist das denn? Wie kann ich Menschen Sicherheit geben wollen, wenn ich doch wenig später selbst Zeuge einer schockierenden Situation werde?"
Und es war diese Erfahrung, die Spinette dazu bewogen hat, einen offenen Brief zu schreiben. Adressiert ist der an den föderalen Innenminister Bernard Quintin, den Prokurator des Königs von Brüssel, Jean Moinil, und den Korpschef der Polizeizone Brüssel-Süd, Jurgen De Landsheer. Darin fordert er in erster Linie Verstärkung für seine Polizeidienste. Aber im Grunde will er eigentlich nur noch einmal alle Beteiligten aufrütteln. Er sei sich ja auch dessen bewusst, wie schwer es ist, das Problem in den Griff zu bekommen. Er kenne auch die Zwänge und die Grenzen, er wisse auch, was möglich ist, und was nicht. "Aber man sollte doch alles tun, um das Unmögliche eben doch möglich zu machen, im vorliegenden Fall geht es schließlich um Kinder."
Und vor allem: Hier geht es um ein Stadtviertel, das nicht per se ein sozialer Brennpunkt ist. Saint-Gilles ist insgesamt eine "bessere Gegend", die Gemeinde war bis vor Kurzem nicht als eine Hochburg der Drogenkriminalität bekannt. Das, was wir jetzt erleben, das sei eben ein ganz neues Phänomen, das so auch in anderen belgischen und europäischen Städten zu beobachten sei. Überall niste sich die Drogenmafia ein, mit den gleichen schlimmen Folgen für die Gesellschaft.
Das nur, um zu sagen: Hier haben nicht die jeweiligen örtlichen Behörden versagt, die sind mit den Ausmaßen des Problems schlichtweg überfordert. "Und dieses Krebsgeschwür wird weiter wuchern und bald auch andere Stadtgemeinden erfassen." Sein Appell richte sich denn auch nicht gegen den einen oder die andere, sagt Spinette. Hier gehe es nicht darum, Verantwortungsträger auf anderen Ebenen an den Pranger zu stellen. Er wolle nur nochmal alle Beteiligten wachrütteln. "Denn jetzt reicht es!"
Roger Pint