Gegen diesen Gregory Lenoci wird inzwischen wegen versuchten Mordes ermittelt. Lenoci selbst plädiert für Nachsicht: Er habe zuvor schon Klage gegen besagten Nachbarn eingereicht, und zwar wegen des mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs seines Stiefsohnes. Doch habe die Justiz nicht reagiert. Die zuständige Staatsanwaltschaft verweist auf die entsprechenden Prozeduren.
In sozialen Netzwerken wird Grégory Lenoci schon der "wallonische Rächer" genannt. Streng genommen stimmt das auch, weil Grégory Lenoci das Gesetz selbst in die Hand genommen hat. Nur schwingt in diesem Beinamen natürlich auch eine gewisse Bewunderung mit. Und das macht die Affäre problematisch. Selbstjustiz ist bekanntermaßen ungesetzlich.
Alles beginnt vor genau einer Woche, am vergangenen Donnerstag. Grégory Lenoci veröffentlicht in Sozialen Netzwerken ein kurzes Video, in dem ein Mann zu sehen ist, der blutüberströmt am Boden liegt. In dem kurzen Film beschuldigt Grégory Lenoci sein Opfer des sexuellen Missbrauchs an seinem Stiefsohn. "Du wirst Dich jetzt an keinem Kind mehr vergreifen, ist das klar?", hört man Lenoci sagen.
Grégory Lenoci lässt sein Opfer bewusstlos auf dem Boden liegen, wobei er immerhin den Notarzt verständigt hat. Und dann macht er sich aus dem Staub. Tagelang wird nach dem 48-Jährigen gefahndet, bis er sich am vergangenen Dienstagnachmittag selbst der Polizei stellt. Bevor Lenoci das Kommissariat betritt, nimmt er aber noch kurz ein neues Video auf. Darin erläutert er noch einmal seinen Akt.
Mutmaßliche Übergriffe
Seine Erklärung klingt irgendwie auswendiggelernt, als habe ihm ein Anwalt den Text vorformuliert. Jemanden zu schlagen, das sei -rechtlich betrachtet- nie zu rechtfertigen, sagt Grégory Lenoci, auch nicht vor dem Hintergrund einer schockierenden oder revoltierenden Situation. Das sehe er durchaus ein. "Aber", so betont Grégory Lenoci: Er wolle unterstreichen, dass er seinen Akt begangen habe in einem Moment tiefer emotionaler Aufgewühltheit wegen extrem schlimmer Taten, genauer gesagt wegen Übergriffe auf Minderjährige.
Grégory Lenoci hatte offensichtlich allen Grund, aufgewühlt zu sein. Am 22. Juli, also zwei Tage, bevor er seinen Nachbarn zusammengeschlagen hat, hatte Lenoci Klage gegen ihn eingereicht wegen sexueller Übergriffe. Dieser Mann, Marc P., hatte im Stadtteil Jambes anscheinend eine Zeitlang seine Garage für die Kinder der Nachbarschaft geöffnet. Dort bot er ihnen laut Medienberichten unter anderem die Möglichkeit, auf einer Spielkonsole zu zocken. Marc P. scharte also die Kinder gezielt um sich. Ob in besagter Garage oder in einem anderen Kontext: Marc P. soll sich jedenfalls am Stiefsohn Grégory Lenoci vergangen haben, also am Sohn seiner Lebensgefährtin. Die hat im Fernsehsender RTL den Vorfall geschildert. Demnach handelt es sich um einen sexuellen Übergriff. Nachdem sich zwei Tage später immer noch nichts getan hatte, verlor Lenoci die Nerven und nahm das Gesetz selbst in die Hand.
Reaktion Staatsanwaltschaft
"Wir können aber nicht jeden Menschen sofort festnehmen, sobald Anzeige gegen ihn erstattet wird", reagierte in der RTBF Régine Cornet d'Elzius, die diensttuende Prokuratorin des Königs von Namür. "Und zum Glück", betont die Magistratin. Denn es gibt schließlich die Unschuldsvermutung. Und man kann nicht jeden einsperren einfach nur, weil er von irgendjemandem einer Straftat beschuldigt wird.
Und im vorliegenden Fall hätten die zuständigen Behörden sofort Ermittlungen aufgenommen, betont Régine Cornet d'Elzius. In solchen Affären gestalte sich das oft sehr heikel. Man versuche deswegen erstmal, ein Maximum an Informationen zu sammeln, um den Beschuldigten dann damit konfrontieren zu können, sagt die Staatsanwältin.
Zweite Anzeige
Neue Presseberichte scheinen die Geschichte aber in ein anderes Licht zu rücken. Wie sich inzwischen herausgestellt hat, hatte ein anderer Vater schon am 29. Juni, also rund einen Monat vorher, der Polizei die verdächtigen Umtriebe des Mannes gemeldet und das unabhängig von Grégory Lenoci. Beide Väter kennen sich nicht. Doch Marc P. machte weiter wie bisher. Zwei Klagen innerhalb von weniger als vier Wochen: "Hätte das die Justizbehörden nicht alarmieren müssen?", fragte sich schon die Zeitung L'Avenir.
Und hat der Fernsehsender RTL noch eine schlimmere Enthüllung veröffentlicht: Der zweimal beschuldigte Marc P. war demnach kein unbeschriebenes Blatt: 2020 sei er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden wegen versuchter Vergewaltigung eines Kindes. Das werfe die Frage auf, ob die Justiz nicht eigentlich schon nach der ersten Klage vom 29. Juni hätte aktiv werden müssen.
Die Justizbehörden von Namür wollten auf diese Informationen bislang nicht reagieren. "Im Interesse der Ermittlungen", wie es hieß.
Roger Pint