Über die Ermordung von Patrice Lumumba kann man ganze Bücher schreiben. Patrice Lumumba war der erste Premierminister des gerade unabhängig gewordenen Kongos. Er nahm das Wort "Unabhängigkeit" ernst, wollte absolut vermeiden, dass am Ende doch alles weiter geht, wie bisher, dass die Belgier auch nach der Erlangung der Eigenständigkeit weiter aus Brüssel die Fäden ziehen.
Das machte er schon beim Festakt zur Unabhängigkeitsfeier in Leopoldville, heute Kinshasa, sehr deutlich klar. In seiner Rede vor König Baudouin übte Lumumba ungewöhnlich undiplomatische Kritik an der einstigen Kolonialmacht. Böse Zungen behaupten, dass er damit eigentlich schon sein Todesurteil unterschrieben hatte.
Patrice Lumumba zog seine nationalistische Agenda durch, was die Belgier und auch die USA zunehmend verärgerte. Sie hatten Angst um ihre Wirtschaftsinteressen im Kongo, konkret, dass Lumumba insbesondere die Bergbaugesellschaften verstaatlichen könnte. Als er dann auch noch die Sowjetunion um Unterstützung bat, überschritt er in diesen Zeiten des Kalten Krieges endgültig eine rote Linie.
Vordergründig wurde Lumumba aber von seinen innenpolitischen Widersachern ausgebootet und ermordet: Sein Armeechef, der spätere Machthaber Joseph-Désiré Mobutu, ließ Lumumba festnehmen und per Flugzeug in die damals unabhängige Provinz Katanga verschleppen. Der dortige Machthaber Moïse Tschombé war ein Erzfeind Lumumbas, was dessen Schicksal besiegelte.
Am 17. Januar 1961 wurden Patrice Lumumba und seine zwei Getreuen von katangischen Soldaten erschossen - im Beisein belgischer Soldaten. Um die Tat zu vertuschen, wurde Lumumbas Leichnam später mit Schwefelsäure aufgelöst, die von der belgischen Union Minière bereitgestellt worden war.
Der belgische Polizeioffizier Gérard Soete hatte diese makabre Operation vor seinem Tod im Jahr 2000 freimütig in Presseinterviews geschildert. Soete hatte einen Zahn von Lumumba als eine Art "Trophäe" behalten, der erst 2022 der Familie im Rahmen eines Staatsaktes übergeben wurde.
Allein diese Episode zeigt, dass die Belgier doch nicht so ganz unbeteiligt an der Ermordung von Lumumba waren. Für Kritiker ist sie sogar der Beweis dafür, dass Belgien hier im Hintergrund die Strippen gezogen hat, zusammen mit den USA oder vielleicht im Auftrag der Amerikaner.
Ein belgischer Untersuchungsausschuss war 2001 lediglich zu dem Schluss gekommen, dass "einige Mitglieder der belgischen Regierung und andere belgische Akteure" eine "moralische Verantwortung" für den Tod Lumumbas getragen hätten. Die Familie des Ermordeten sah das anders und reichte 2010 in Brüssel Klage gegen zwölf Belgier wegen Mittäterschaft ein.

Von diesen zwölf Beschuldigten lebt heute noch einer: Etienne Davignon, seines Zeichens Urgestein der belgischen Außenpolitik und ehemaliger Industriekapitän, einer der einflussreichsten Belgier der Nachkriegszeit. Davignon war unter anderem Außenminister, EU-Kommissar und der große Strippenzieher in der damaligen Société Générale, um nur seine wichtigsten Funktionen zu nennen.
Einer seiner ersten beruflichen Etappen führte ihn als 27-28-Jähriger in den Kongo - in der fraglichen Zeit. 1960-61 war er Gesandter des damaligen Außenministers in der gerade unabhängig gewordenen Kolonie, er war hautnah dabei.
Klar habe er Patrice Lumumba gekannt, sagte Davignon vor einigen Jahren in einem RTBF-Interview. "Das war ein charismatischer Anführer, ein Nationalist, ein Mann mit Ambitionen, der aber nicht notwendigerweise zu einem Feind werden musste."
Lumumba wurde aber zu einem Widersacher. Weil er die belgischen Interessen gefährdete. In einem solchen Moment sei es doch nur normal, wenn die belgischen Behörden den Mann jetzt nicht noch aktiv unterstützen, sagte Davignon, der für seine nüchtern formulierten realpolitischen und pragmatischen Aussagen berühmt ist.
"Wir unterstützten Lumumba damals nicht. Nun gut. Das heißt aber nicht im Umkehrschluss, dass wir ihn dafür gleich beseitigt haben müssen. Vielleicht wollten wir einen Regimewechsel, nur haben wir dafür nicht auf kriminelle Methoden zurückgegriffen. Das entsprach nie der belgischen Mentalität. Im Übrigen hatten wir die Mittel nicht."
Genau davon ist aber auch die Föderale Staatsanwaltschaft nicht mehr überzeugt. 13 Jahre hat sie in dem Fall ermittelt. Auf dieser Grundlage will sie Davignon jetzt an ein Strafgericht verweisen. Die zuständige Ratskammer in Brüssel hat die Prüfung der Akte über die Ermordung von Patrice Lumumba am Dienstag verschoben, auf den 20. Januar nächsten Jahres. Aber es ist nicht mehr ausgeschlossen, dass Etienne Davignon sich im hohen Alter doch noch für seine Rolle vor 65 Jahren verantworten muss.
Roger Pint