Wenn man Menschen auf der Straße bitten würde, einfach mal spontan aufzuzählen, wer die höchsten und wer die niedrigsten Renten hat im Land, wird man wahrscheinlich meistens in etwa die folgende Rangfolge bekommen: Beamte – Angestellte – Selbstständige. Und historisch betrachtet war das tatsächlich auch lange Zeit so: Selbstständige hatten in Belgien niedrigere gesetzliche Renten als Angestellte.
Das bestätigt auch der OECD-Ökonom und Rentenexperte Wouter De Tavernier gegenüber der VRT. Früher wurde bei der Berechnung der Renten von Selbstständigen eine Anpassung durchgeführt, die den Rentenbetrag im Vergleich zu Renten von Angestellten senkte. Dazu wurde ein sogenannter Korrekturkoeffizient eingesetzt. Das führte dazu, dass die Rente von Selbstständigen auf der Grundlage von 69 Prozent ihres Einkommens berechnet wurde.
Dieser Eingriff hatte auch einen Grund: Selbstständige zahlten nämlich deutlich weniger Sozialbeiträge. Aber dann führte die Vivaldi-Regierung 2021 eine Rentenreform durch und schaffte den Korrekturkoeffizienten ab. Das Ziel: die Pensionen für Selbstständige kräftig steigen zu lassen, um sie auf das gleiche Niveau zu bringen wie die von Angestellten. Eine Maßnahme, die damals auf breite Zustimmung stieß, nicht zuletzt natürlich bei den Selbstständigen selbst.
Keine Gegenfinanzierung
Allerdings hatte und hat die ganze Geschichte einen großen Haken: Die Regierung hat diese Maßnahme nicht gegenfinanziert. Anders ausgedrückt: Die Renten für die Selbstständigen wurden erhöht, ihre Beiträge aber nicht. Selbstständige zahlen also nach wie vor deutlich niedrigere Sozialbeiträge als Angestellte.
Höheren Ausgaben stehen damit keine höheren Einkünfte gegenüber, wie die OECD unterstreicht. Das ist auch keine neue Erkenntnis: Die OECD bemängelte das schon kurz nach der Vivaldi-Reform und auch wieder 2024 – damals sogar mit dem expliziten Vermerk, dass Belgien nichts in der Sache unternommen habe.
Um ein Rentensystem nachhaltig organisieren zu können, müsse seine Finanzierung in Ordnung sein, hebt De Tavernier auch nun wieder hervor. Das bedeute, dass die Finanzierung die Ausgaben langfristig decken können müsse. Das sei bei den Selbstständigenrenten in Belgien nicht der Fall. Die Ausgaben seien erhöht worden, ohne gleichzeitig für höhere Einnahmen zu sorgen. Das sorge langfristig für Probleme bei der Finanzierung des Rentensystems.
Die aktuelle Föderalregierung, also die Regierung De Wever, hat sich ja unter anderem auf die Fahnen geschrieben, das Rentensystem tiefgreifend zu reformieren. Das beinhaltet vor allem eine Harmonisierung der verschiedenen Rentenregelungen.
Politisch heikles Thema
In puncto Renten betone das Regierungsabkommen, wie wichtig eine nachhaltige Finanzierung des Systems sei und eine Harmonisierung und Gleichstellung der verschiedenen Renten. Aber offenbar seien dabei nicht die Selbstständigen berücksichtigt worden, wo es ja ein bekanntes Problem gebe in dieser Hinsicht. Eine Feststellung, die die OECD durchaus irritiert.
Und nicht nur sie, auch andere Rentenexperten prangern diese strukturelle Unterfinanzierung seit Jahren an, sprich die Sozialbeiträge von Selbstständigen sind im Schnitt eigentlich viel zu niedrig für die höheren Renten, die man ihnen versprochen hat.
Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Das Kabinett von Pensionsminister Jan Jambon hat auf Nachfrage der VRT jedenfalls schon abgewunken. Das sei eine Entscheidung der Vorgängerregierung gewesen und im aktuellen Regierungsabkommen sei von einer Anpassung keine Rede. Das sei auch ein politisch heikles Thema, so der Tenor aus politischen Kreisen.
Boris Schmidt