Gerade mal 23 Seiten umfasst das Dokument, das gerade die Historiker in helle Aufregung versetzt. Man wusste zwar von seiner Existenz, gesehen hatte es aber noch niemand. Seit Jahren schlummerte die Akte im Nachlass von Prinzessin Liliane, der zweiten Frau von Leopold III.
Veröffentlicht hat es jetzt der flämische Autor Vincent Stuer in seinem neuen Buch, in dem er sich mit dem Schicksal von König Leopold III beschäftigt mit dem prägnanten Titel "Rexit" - sinngemäß "Abgang eines Königs".
Besagter Abgang, der erfolgte bekanntlich 1950-51. Erst übernahm sein Sohn Baudouin 1950 die Regentschaft, damals noch als Königlicher Prinz. Am 16. Juli 1951 unterzeichnete Leopold dann offiziell seine Abdankung. Am nächsten Tag wurde Baudouin als König vereidigt.
Der Thronabstand war für das Land zu einer geradezu existentiellen Frage geworden. Leopold III war arg umstritten. Man warf ihm vor, nach der Kapitulation nicht der Exilregierung nach London gefolgt zu sein. Er hat sich sogar mehrmals vom Exil-Premier Hubert Pierlot und seiner Equipe distanziert.
Außerdem hat er sich mit Adolf Hitler getroffen. Und obendrauf kam dann seine Hochzeit mit Liliane Baels, mit anschließenden Flitterwochen -wieder mit dem Segen von Hitler. Und das in einer Zeit, in der tausende belgische Kriegsgefangene in Lagern ausharren mussten. Das alles führte zur sogenannten Königsfrage und zu einer Volksabstimmung, an der das Land fast zerbrochen wäre.
Vorbild Vichy-Frankreich
Besagtes Dokument, das Vincent Stuer jetzt veröffentlicht, erlaubt es jetzt den Historikern, ihr Bild von Leopold III zu vervollständigen. Datiert ist es vom 10. Juli 1942. Seine Berater spielen darin einige mögliche Zukunftsszenarien für Belgien durch. Dabei ging es eigentlich in erster Linie um Leopold, der in irgendeiner Form König bleiben und die Dynastie damit bewahren wollte.
In einer ersten Phase denkt man an eine Art Mini-Belgien, das -mehr oder weniger- auf dem Gebiet Provinz Namur entstehen sollte, wenn möglich aber später auch mehr, sagte in der RTBF die Historikerin Chantal Kesteloot. Vorbild wäre Vichy-Frankreich, also ein kleines, autoritäres Regime, das aber immer noch Nazi-Deutschland unterworfen wäre.
König im Elfenbeinturm
Über all das würde Leopold aber immer mit Nazi-Deutschland verhandeln, betont die Historikerin. Der König würde sich also mit Hitler arrangieren. Und, laut der von seinen Beratern ausgearbeiteten Vision, würde Leopold dann neue Minister ernennen, die also die Exil-Regierung in London ersetzen würden.
"Das Dokument bestätigt im Grunde das Bild, das wir von Leopold hatten", sagt Chantal Kesteloot. Wir kannten seine Haltung von 1940, als er eine Art Statthalterschaft unter deutscher Fuchtel anstrebte. Und wir kennen auch sein politisches Testament von 1944.
Das Dokument füllt also eine Lücke. Und jetzt wissen wir auch, dass Leopold von einer Zukunft unter dem Banner der Nazis ausging. Er verliert kein Wort über die Résistance und die vielen Untergrundzeitungen. Selbst die Exil-Regierung scheint nicht zu existieren. "Wir sehen hier einen König in seinem Elfenbeinturm."
Leopold hatte seine Meinung also seit 1940 nicht um einen Deut geändert. Und das kann man letztlich nur noch als eine Form von Kollaboration bezeichnen.
Sympathie für autoritäre Regimes
Zwar stammt der Text von seinen Beratern, doch besteht kein Zweifel daran, dass die ihre Vision gemäß den Überzeugungen des Königs formuliert haben, sagt der Historiker Hervé Hasquin in der RTBF. Schon vor dem Krieg hatte Leopold Sympathien gezeigt für ein autoritäres Regime, in dem das Parlament weitgehend außen vor bleiben sollte.
Es gibt vielleicht doch einen, wenn auch kleinen mildernden Umstand, nämlich den Kontext, gibt Hasquin sinngemäß zu bedenken: Im Juli 1942, also zum Zeitpunkt der Abfassung des Dokuments, war das Nazi-Regime noch fest im Sattel. Die Niederlagen in Nordafrika und in Stalingrad mussten erst noch kommen. Vielleicht war es deshalb schwierig, sich überhaupt eine Zukunft in einem freien Europa noch vorzustellen.
Dennoch: Wirklich fundamentale Bedenken dürfte König Leopold III dabei nicht gehabt haben. "Schon vor dem Krieg war er von starken Regierungen fasziniert, die ja in den 30er Jahren gewissermaßen 'in Mode' waren", sagt Hervé Hasquin. Und das gilt auch für rechtsextreme Regime. Und genau diese Attitüde erinnert in erschreckender Weise an die heutige Zeit.
Roger Pint