"Drei Schießereien innerhalb von 24 Stunden, eine in Saint-Josse, zwei in Anderlecht. Das ist ebenso bedauerlich wie inakzeptabel." Julien Moinil ist gerade erst im Amt und hat direkt alle Hände voll zu tun. Der 39-Jährige ist seit einem knappen Monat der neue Prokurator des Königs von Brüssel. Am Donnerstag musste er live in einem RTBF-Studio bekanntgeben, dass es eine weitere Schießerei gegeben hatte - die dritte innerhalb von 24 Stunden.
Dieser Vorfall wirkt fast schon symptomatisch. Er hat sich nämlich im selben Viertel ereignet wie die Schießerei von Mittwoch, die so viel Staub aufgewirbelt hatte. Da waren zwei Männer, nachdem sie zuvor das Feuer auf einen dritten eröffnet hatten, mit Kalaschnikow-Sturmgewehren durch die Brüsseler U-Bahn-Station Clemenceau spaziert, um danach in den Metro-Tunnels zu verschwinden. Der Fall hatte für einen regelrechten Aufschrei gesorgt. Umso verstörender ist es, dass keine 24 Stunden später - wieder - in unmittelbarer Nähe der Metro-Station Clemenceau Schüsse gefallen sind. Diesmal wurde eine Person verletzt; das Opfer schwebte zeitweilig in Lebensgefahr. Das war gegen 3:30 Uhr.
Dass das wieder quasi am selben Ort passiert, mag dreist wirken, dafür gibt es aber eine Erklärung. Hier geht es wieder um Territorialkämpfe unter Drogenbanden. Das bestätigte auch Prokurator des Königs Julien Moinil in der RTBF. "Und wissen Sie, so etwas bleibt schockierend, selbst, wenn man das nicht zum ersten Mal sieht. Man muss sich nur in die Pendler versetzen, die gestern die Zeugen des Vorfalls in der Metro-Station geworden sind. Schlimmer noch: Nach der gestrigen Schießerei hat man in einer Wohnung unweit des Tatorts ein Einschussloch in einem Kinderzimmer gefunden. Man muss sich das mal vorstellen", sagt Julien Moinil. Nicht vergessen: In Antwerpen ist schon ein kleines Mädchen bei einem ähnlichen Vorfall ums Leben gekommen. "Wie viele Tote muss es noch geben?", fragt sich also Julien Moinil.
Aufstockung der Mittel
Man könnte einwenden, dass er doch in seiner Eigenschaft als Prokurator des Königs eigentlich in der Position sei, solche Vorfälle zu verhindern, jedenfalls die Täter dingfest zu machen. Das sei aber allenfalls die halbe Wahrheit. Erstmal müsse er auch über die nötigen Mittel verfügen. Zuallererst brauche er dingend eine personelle Verstärkung der ihm zur Verfügung stehenden Polizeikräfte. "Denn jede dieser Schießereien hat einen erheblichen Arbeitsaufwand zur Folge", sagt der Prokurator des Königs. Er stelle fest, dass die neue Regierung in ihrem Koalitionsabkommen eine Aufstockung der Mittel vorsieht. Dann werde er die fünf Parteien beim Wort nehmen. Denn jetzt müssten endlich Taten folgen.
Damit aber nicht genug: Auch im Strafvollzug müsse man dringend die Daumenschrauben anziehen, fordert Julien Moinil. "Denn im Moment sehen wir hier doch eine einzige Heuchelei": Selbst Leute, die zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, sitzen die in der Praxis gar nicht mehr wirklich ab - zumindest nicht im Gefängnis. Ursache ist die Überbelegung der belgischen Haftanstalten.
Man könne inzwischen in Brüssel durchaus von einer Art "Laisser-Faire"- Situation sprechen. "Vorfälle, und seien sie auch noch so schlimm, bleiben letztlich ohne Folge. Klar: Man kann wohl tatsächlich nicht jeden Einzelnen einsperren. Dennoch darf keine Straftat ohne jegliche Reaktion bleiben. Denn ansonsten macht sich ein Gefühl von Straffreiheit breit. Und Straffreiheit ist der Feind des Rechtsstaates."
Roger Pint