Obschon die Gefängnisse in Belgien 11.020 Plätze bieten, befinden sich aktuell 12.777 Menschen hinter Gitter.
Vergangene Woche hat sich die ohnehin schon angespannte Lage noch einmal verschärft, als über 100 Verurteilte aus einem großen Drogenprozess in Brüssel ihre langjährigen Haftstrafen antreten mussten.
"Wir sehen jetzt, dass wir Opfer unseres eigenen Erfolgs werden", kommentiert Kathleen Van De Vijver, Sprecherin der belgischen Gefängnisse, die Situation gegenüber der VRT.
Damit die Überbevölkerung nicht weiter zunimmt, zieht Justizminister Paul Van Tigchelt jetzt die Reißleine. Mit einem Paket von Maßnahmen will er den weiteren Zustrom von Gefängnisinsassen drosseln. Die auffälligste Maßnahme besteht darin, alle Straftäter, die höchstens für fünf Jahre ins Gefängnis sollen, zunächst nicht in die Gefängnisse zu lassen.
Die Maßnahme soll ab sofort gelten und sogar rückwirkend greifen: Alle Gefängnisstrafen, die seit dem 28. Oktober ausgesprochen worden sind und weniger als fünf Jahre dauern, sollen nicht mehr ausgeführt werden.
„Die Maßnahme wird nicht für alle Strafen gelten. Menschen, die für Sexualdelikte verurteilt worden sind, für interfamiliäre Gewalt, schwere Gewalttaten und Terror sind von der Maßnahme nicht betroffen“, stellt Kathleen Van De Vijver klar.
Auch bedeutet die Entscheidung des Ministers nicht, dass die Verurteilten straffrei bleiben. Die Gefängnisstrafen bleiben bestehen und müssen zu einem späteren Zeitpunkt angetreten werden.
Verurteilte Straftäter, die nicht - und wenn auch nur zeitweise nicht - ihre Strafe antreten, sind natürlich ein Problem für eine Gesellschaft, die eine Haft als sinnvolle Art der Strafe ansieht. Es verstärkt den Eindruck, dass Belgien es bei weniger schweren Delikten nicht so ernst nehmen könnte mir der Durchsetzung des Rechtsstaats.
So sieht das zum Beispiel auch der MR-Föderalabgeordnete Denis Ducarme. In der Zeitung La Dernière Heure kündigt er an, das Thema auf die Tagesordnung des Parlaments zu bringen. Justizminister Van Tigchelt müsse sich erklären und vor allem auch sagen, wie lange diese Regel jetzt gelten solle.
Dabei gilt es zu bedenken, dass Van Tigchelt als geschäftsführender Minister keine grundlegenden Entscheidungen treffen darf, die für mehr Platz in belgischen Gefängnissen sorgen könnten. Solche Entscheidungen wären aber natürlich nötig, denn der wenige Platz in den belgischen Gefängnissen wird auch verursacht durch Menschen, die eigentlich gar nicht in Gefängnissen sitzen sollten. Dazu zählen zum Beispiel illegale Einwanderer, die nicht in ihre Heimatländer abschoben werden oder werden können, oder auch psychisch kranke Insassen, die besser in einer geschlossenen Psychiatrie als in einem normalen Gefängnis aufgehoben wären.
Und so sehr Gefängnissprecherin Van De Vijver die jetzt beschlossenen Maßnahmen auch im Grundsatz begrüßt, wünscht auch sie sich dringend grundsätzliche Beschlüsse der Politik für eine dauerhafte Verbesserung der Lage.
„Wir läuten zum wiederholten Mal die Alarmglocke“, sagt sie. „Wir müssen jetzt wirklich ernsthaft eine Debatte über die Zukunft der Gefängnisse führen. Wer soll da hineinkommen und warum? Und dabei geht es nicht nur um den Platz, den es in den Gefängnissen gibt. Für eine solche Debatte benötigt man Mut, viel politischen Mut. Und für so eine Debatte warten wir auf die neue Föderalregierung.“
Kay Wagner