Es ist eine idyllische Szene: Auf einer sommerlichen Wiese, umgeben von Sträuchern und Bäumen, picknicken Jugendliche. Sie sind ausgelassen, ein Mädchen spielt Gitarre. Im Hintergrund sieht man eine Bahnstrecke, auf der auch ein Zug vorbei rattert.
Das sei ihr Ort, erzählt die Stimme eines Mädchens, der perfekte Ort, um gemeinsam ungestört abzuhängen. Fotografieren sei ihr Hobby, schwärmt sie, wenn sie die Kamera in der Hand habe, vergesse sie die Welt um sich herum. Man sieht, wie ein anderes Mädchen für die Kamera posiert, die Fotografin versucht, den besten Winkel und das perfekte Licht zu finden, geht dafür rückwärts. Man hört Stimmen, ihre Freunde rufen, versuchen sie noch zu warnen, weil sie den Gleisen dabei immer näher kommt. Vergeblich, ein Zug rast heran, die junge Fotografin ist in einem Moment noch da, im nächsten Moment einfach verschwunden.
Schockwirkung
Ein tragisches Unglück, hier zum Glück nur nachgestellt für die "Not Spot"-Sensibilisierungskampagne von Schienennetzbetreiber Infrabel. "Not Spot", frei übersetzt also "nicht an diesem Ort". Die Szene mag nachgestellt sein, aber dank Virtual-Reality-Brillen fühlt sie sich sehr real an für die Schülerinnen und Schüler, die an der Warn-Veranstaltung von Infrabel teilnehmen. Es sei schockierend, so etwas auf diese Weise zu sehen, fasst eine Schülerin gegenüber der VRT zusammen. Das Mädchen sei einfach weg, die Freunde trauerten, so das sichtlich mitgenommene Mädchen.
Neben dieser Eingangsszene können die Schülerinnen und Schüler auch noch Altersgenossen hören, die die Geschichten von anderen Unfällen nacherzählen.
Keine Frage, es ist eine Schock-Methode. Aber genau darum gehe es, erklärt Infrabel-Sprecher Frédéric Petit, um einen emotionalen Zugang zu Kindern und Jugendlichen, um das Schaffen einer Situation, in die sie sich hineinversetzen könnten und die sie auch persönlich berühre. Es sei absolut notwendig, die Menschen wieder und wieder zu sensibilisieren, betont Infrabel-Sprecher Petit. Denn allein im letzten Jahr habe es elf tödliche Unglücke an Bahnübergängen gegeben – oder anders gesagt fast ein Todesopfer pro Monat.
Nicht nur Jugendliche
Das Phänomen betrifft natürlich nicht nur Kinder und Jugendliche. Auf Überwachungsvideos sieht man Menschen aller Altersgruppen, von Kindern, über Mütter mit Kinderwagen bis hin zu alten Menschen, mal zu Fuß, mal mit dem Rad oder mit dem Auto, die geschlossene Bahnübergänge einfach ignorieren – und manchmal dem Tod nur extrem knapp entkommen.
Laut Umfragen kennen die meisten Belgier die Verkehrs- und Sicherheitsmaßregeln. Aber knapp die Hälfte ist dennoch bereit, Gleise zu überqueren, wo das verboten ist. Die Menschen seien sich der Risiken offenbar oft einfach nicht bewusst, beklagt Petit. Und wenn es dann mal wieder zu einem dieser Dramen kommt, ist das menschliche Leid für Angehörige und Familie unermesslich. Aber selbst, wenn die Betroffenen mehr Glück als Verstand haben und nichts passiert, hat ihr Verhalten Folgen. Jeden Tag verursachten solche Menschen insgesamt zwölf Stunden Verspätungen, rechnet Petit vor. Zugverbindungen müssten unterbrochen werden oder Züge könnten wegen Meldungen von Personen im Gleisbereich nur Schrittgeschwindigkeit fahren.
Und dann sei da auch noch die enorme psychische Belastung für die Lokführer, wenn sie mit solchen Situationen konfrontiert würden. Das Ziel sei, die Zahl der Opfer auf Null zu bringen. Aber dazu müssten die Menschen ihren gesunden Menschenverstand gebrauchen und Sicherheit über Bequemlichkeit stellen, appelliert der Infrabel-Sprecher.
Boris Schmidt