Es ist ein Bild des Grauens, das sich den Rettungskräften in der Nacht zum Sonntag bietet. Sie sind zur Autobahn E403 gerufen worden, die Zeebrugge mit Tournai verbindet. Auf dem Gebiet der westflämischen Gemeinde Ruddervoorde hat sich ein schwerer Unfall ereignet.
Als die Notdienste am Ort des Geschehens eintreffen, steht dort das Wrack eines Mercedes. An Bord befindet sich der verletzte Fahrer: der 50-jährige Jurgen L. Der Mann muss mit einer schweren Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht werden. Schon den Rettern ist sofort klar, dass der Mann volltrunken ist.
Erst Minuten später stellen sie erschrocken fest, dass der Mercedes von Jurgen L. nicht das einzige Fahrzeug ist, das in den Crash verwickelt war. Dutzende Meter weiter entdeckt man ein weiteres verunfalltes Auto im Straßengraben. Der Kleinwagen liegt auf dem Dach, man kann das Fabrikat kaum noch erkennen, es sieht aus wie auf einem Schlachtfeld.
Die drei Insassen hatten keine Chance: Der 29-jährige Janick, seine Frau Janice und ihre achtjährige Tochter Maithé aus dem unweit gelegenen Kortemark waren auf der Stelle tot.
Was ist passiert?
Der Unfallhergang wird nach bisherigem Erkenntnisstand wie folgt beschrieben: Gegen 0:50 Uhr am frühen Sonntagmorgen war Jurgen L. mit seinem Mercedes mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf der rechten Fahrspur unterwegs. Dass vor ihm ein kleiner Opel Corsa fuhr, das hat er offensichtlich nicht gesehen.
Der Mercedes krachte mit voller Wucht auf den Kleinwagen, der Corsa wurde buchstäblich von der Straße geschossen. Noch hundert Meter weiter wurden Trümmerteile gefunden.
Jurgen L. sitzt seit dem Horrorcrash wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung und Fahrens unter Alkoholeinfluss in U-Haft. Die ärztliche Untersuchung ergab, dass er drei bis vier Mal so viel getrunken hatte wie erlaubt.
Das war aber erst der Anfang. Es stellte sich heraus, dass der Mann ein notorischer Verkehrsrowdy und Wiederholungstäter ist. Laut Medienberichten wurde er in den letzten acht Jahren mindestens 14 Mal wegen schwerer Verkehrsdelikte verurteilt: Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit, unter Alkoholeinfluss, ohne gültige Versicherung. Der Gesamtbetrag an Geldbußen, zu denen er verurteilt wurde, beläuft sich auf unglaubliche 15.000 Euro - 11.000 davon stehen noch aus.
Und es kommt noch schlimmer: Wie die Zeitung De Standaard berichtet, hätte Jurgen L. gar nicht mehr im Besitz eines Führerscheins sein dürfen. 2021 war er demnach zu einem dreimonatigen Fahrverbot verurteilt worden. Dem Urteil zufolge sollte er seinen Führerschein erst zurückbekommen, wenn er seine theoretische und seine praktische Fahrprüfung erneut abgelegt hatte. "Und genau ab diesem Moment ist etwas falsch gelaufen", bestätigte Tom Janssens, der Sprecher der Staatsanwaltschaft Westflandern, in der VRT.
Der Mann sei schriftlich dazu aufgefordert worden, den Namen der Einrichtung durchzugeben, wo er seine beiden Fahrprüfungen ablegen wollte. Auf dieses Schreiben habe er aber nicht reagiert. "Im Normalfall wird der Betreffende dann darüber informiert, dass er innerhalb von vier Tagen seinen Führerschein abgeben muss, wenn er der Aufforderung nicht doch noch nachkommt. Und das ist offensichtlich nicht passiert", sagt der Sprecher.
Jurgen L. wurde also nicht mehr behelligt und behielt seinen Führerschein. "Wäre alles richtig gelaufen, dann wäre das Ganze vielleicht nie passiert", so beklagten schon Angehörige der Opfer.
Punkteführerschein wieder im Gespräch
Bei der Staatsanwaltschaft Westflandern kann man das durchaus verstehen. "Vielleicht tragen wir tatsächlich eine Mitschuld an der Tragödie", sagt Sprecher Tom Janssens. "Wir werden jedenfalls ausgiebig untersuchen, wie es zu der Panne kommen konnte."
Einen kausalen Zusammenhang herzustellen zwischen dieser Justizpanne und dem Unfall, das sei letztlich spekulativ, reagierte aber Walter Van Steenbrugge, der Anwalt des Beschuldigten, in der VRT. Van Steenbrugge will jetzt unter anderem auch ein psychiatrisches Gutachten anfordern, um etwa untersuchen zu lassen, warum Menschen zu Wiederholungstätern werden.
Die Frage könne man sich aber schenken, reagieren sinngemäß Verkehrsexperten. Gäbe es einen Punkteführerschein, dann hätte man Jurgen L. längst aus dem Verkehr ziehen können. Das Thema liegt anscheinend auch auf dem Tisch der Arizona-Koalitionsverhandlungen.
Die zuständige Ratskammer wird am Freitag entscheiden, ob der Haftbefehl gegen den 50-Jährigen verlängert wird.
Roger Pint