Sieg der Rechtsextremen in Frankreich. Starker Zuwachs der AfD in Deutschland. Bestätigung der neofaschistischen Regierung in Italien. Aber auch: Kein Sieg der National-Konservativen in Polen, deutliche Verluste der Rechtsextremen in Schweden und Finnland. So lesen sich die Ergebnisse der Europawahlen 2024 mit Blick auf rechtsextreme Parteien. Diesen Parteien hatten Beobachter EU-weit deutliche Gewinne vorausgesagt, was zu mehr Sitzen und damit zu mehr anti-europäischer Stimmung im Europaparlament geführt hätte.
Aber so weit kam es nicht: "Man hat eigentlich keinen wirklichen Rechtsruck im Parlament. Wenn man sich die Zahlen anschaut, muss man sehen: Die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien sind nur in sehr geringem Umfang gewachsen. Insgesamt reden wir da vielleicht von zwei, drei Prozent der Sitze im Parlament. Das klingt jetzt nicht sonderlich dramatisch", urteilt Markus Becker, Brüsseler Büroleiter des deutschen Nachrichtenmagazins "Der Spiegel". Zuvor hatte Becker zusammen mit EU-Korrespondenten aus Frankreich, Italien und Polen bei einer Gesprächsrunde in der hessischen Landesvertretung bei der EU in Brüssel über den Ausgang der Europawahlen am Sonntag diskutiert.
Dabei teilten Beckers Kollegen seine Analyse zu den rechtsextremen Parteien genauso wie die Feststellung, dass sich die Fraktion der EVP, also der bürgerlich-konservativen Parteien im Europaparlament, als Sieger der Wahlen fühlen darf. Sie konnte sich nicht nur als stärkste Fraktion im Parlament behaupten, sondern ihren Sitzanteil sogar noch vergrößern. Zur EVP (EPP in Englisch) gehören aus Belgien Les Engagés, die CD&V sowie die ostbelgische CSP mit dem wiedergewählten Abgeordneten Pascal Arimont. Aus Deutschland sind CDU und CSU Teil der Fraktion. Die Fraktion werde jetzt durch den Sieg bei den Wahlen eine zentrale Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen, fasste Diskussionsleiter Piotr Maciej Kaczynski die Meinung der Journalisten zusammen.
Kein allzu großer Rechtsruck, eine stärkere EVP, die sehr wahrscheinlich weiter gemeinsam mit den anderen Zentrumsfraktionen der Liberalen und Sozialdemokraten, vielleicht auch mit den Grünen einen gemäßigt-abgesicherten Europakurs fahren wird: Bleibt also alles wie es war im Europaparlament? Spiegel-Korrespondent Becker: "Natürlich hat die Europawahl, wie jede Wahl, da schon etwas verändert. Aber ich sehe da jetzt keinen fundamentalen Wandel für die EU." Moderator Kaczynski sagt: "Die großen Veränderungen werden auf der inhaltlichen Ebene zu spüren sein. Da wird sich einiges ändern. Zum Beispiel wird sich an dem Green Deal, der ja schon da ist, mit Sicherheit etwas ändern."
Es gilt zu bedenken, dass die Europapolitik nicht nur im Europaparlament gemacht wird. Auch die EU-Mitgliedstaaten haben da ein Wort mitzusprechen. Dieses Wort hat oft sogar noch mehr Gewicht als die Abstimmungen des Europaparlaments. Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass die Wahlen auch bei den EU-Mitgliedstaaten Spuren hinterlassen haben, die konkrete Auswirkungen auf die EU haben, denn nach den Wahlen sind die Regierungen in Frankreich und Deutschland unter anderem durch die Erfolge der Rechtsextremen geschwächt. "Die Regierungen von Frankreich und Deutschland sind heute schwächer als noch vor einer Woche", sagte Moderator Kaczynski auf die Frage, was er als die Kernbotschaft der Diskussion der Journalisten festhalte.
Vor dem Hintergrund der Schwächung der europafreundlichen Regierungen in Frankreich und Deutschland nach den Europawahlen kommt der Sieg des ehemaligen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk in Polen mit seiner liberal-bürgerlichen Partei über die national-konservative Pis gerade Recht. Tusk kennt Europa gut, sein Land Polen ist eins der größten in der EU und Tusks Partei gehört auch der siegreichen EVP-Fraktion bei den Europawahlen an. Die Journalisten bei der EU-Debatte in Brüssel waren sich einig, dass Tusk in den kommenden Monaten zum entscheidenden Mann werden könnte, um den Kurs der EU mit viel Legitimation nachhaltig zu prägen.
Kay Wagner