Das Datum für die erneute Machtdemonstration der Bauern ist natürlich nicht zufällig gewählt: Am Dienstag findet in Brüssel nämlich ein Treffen der EU-Landwirtschafts- und Fischereiminister statt. Ironischerweise oder vielleicht auch passenderweise soll das Treffen der EU-Minister dazu dienen, einen Konsens über Anpassungen zu finden, um den wütenden Landwirtschaftssektor zu besänftigen. Es geht nämlich im Kern vor allem darum, Umweltnormen und -auflagen zurückzunehmen und die bürokratische beziehungsweise administrative Belastung für die Bauern zu verringern.
Anders gesagt: Die EU ist bereit, dem Landwirtschaftssektor entgegenzukommen, so wie übrigens auch die regionale und föderale Ebene Belgiens in anderen Streitpunkten.
Die Proteste der Bauern haben also bereits Wirkung gezeigt, wie die Agrarökonomin Tessa Avermaete im Interview mit der VRT erklärt. Deswegen seien viele Landwirte in Flandern beispielsweise auch der Meinung, dass man den Gesprächen erst mal eine Chance geben müsse, bevor wieder auf die Straße gegangen werde.
Protestaufruf von Via Campesina
Der Demonstrationsaufruf stamme eigentlich vor allem von "Via Campesina", erklärt die Expertin. Via Campesina sei aber kein Landwirtschaftsverband sondern eher eine aktivistische Bewegung von Landwirten. Zu der Bewegung gehörten beispielsweise die wallonische Bauernorganisation Fugea oder auch das flämische Bauernforum.
Die Forderungen und Interessen von Via Campesina und der großen flämischen Landwirtschaftsverbände seien teilweise die gleichen – etwa, was gerechtere und damit höhere Preise für landwirtschaftliche Produkte angehe oder dass EU-Regeln angepasst werden müssten. Ein gerechtes Einkommen und eine Beschränkung der Einfuhr billiger Produkte, das sei es, was die Landwirte wollten, fasst zum Beispiel Viehzüchter Stijn Zelderloo zusammen.
Einige europäische Regeln seien auch schlicht nicht umsetzbar, etwa was die Termine für das Einfahren der Ernte angehe oder den wechselnden Anbau von Nutzpflanzen. So etwas funktioniere einfach nicht, wenn man wie in Flandern stark vom Wetter abhängig sei.
Umweltschutz vs. landwirtschaftliche Interessen
In anderen Punkten unterscheiden sich die Forderungen von Via Campesina aber doch erheblich von denen der großen Landwirtschaftsverbände, wie Agrarökonomin Avermaete ausführt.
Via Campesina trete für die sogenannte "Ernährungssouveränität" ein, also eine vor allem kleinbäuerliche und nachhaltige, lokale Landwirtschaft. Also das genaue Gegenteil von freiem und internationalem Handel mit landwirtschaftlichen Produkten. Grob gesagt also auch so ziemlich das Gegenteil von dem, was Groß- und Agrarindustrie wollen.
Damit stehe Via Campesina Umweltschutzorganisationen viel näher als den großen Landwirtschaftsverbänden. Via Campesina widersetze sich also einer Rücknahme oder Lockerung der EU-Umweltnormen.
Ein Standpunkt, den auch Fugea-Sprecher Hugues Falys gegenüber der RTBF unmissverständlich klar macht. Man wolle zwar, dass Europa wieder in die Preisgestaltung für landwirtschaftliche Produkte eingreife. Eine Verwässerung der Umweltauflagen wolle Fugea hingegen nicht, im Gegenteil, man unterstütze den Green Deal und wolle die Agrarwende vorantreiben.
Der Bauernprotest am Dienstag unterstreicht also einmal mehr, dass es so etwas wie "die Landwirte" gar nicht gibt. Und dass sich ihre Interessen und Forderungen teilweise drastisch unterscheiden.
Boris Schmidt