Die Geschichte der sogenannten formellen Wiedereingliederungsverfahren ist nicht gerade das, was man eine Erfolgsgeschichte nennen würde. Zunächst hatte der Rechnungshof die alte Form der Wiedereingliederungsverfahren scharf kritisiert: Die Firmen würden das Verfahren eher als "Entlassungsmaschine" nutzen, als um - wie vorgesehen - krank gewordene Arbeitnehmer wieder zu integrieren. Denn das Durchlaufen des Verfahrens erlaubte es Arbeitgebern, schneller sogenannte "medizinische höhere Gewalt" geltend zu machen. Das bedeutete, dass sie Arbeitnehmer entlassen konnten, ohne sie entschädigen zu müssen und sie direkt auf die Krankenkassen abwälzen konnten. Die Gewerkschaften kritisierten das Wiedereingliederungsverfahren deswegen auch als arbeitgeberfreundliches Mittel, um unliebsame Angestellte einfacher loszuwerden, sprich vor allem ältere und damit teurere Arbeitnehmer.
Der zuständige föderale PS-Wirtschaftsminister Pierre-Yves Dermagne reformierte das System daraufhin im letzten Jahr. Der wichtigste Punkt: Er entkoppelte das Verfahren von der Möglichkeit, Menschen wegen medizinischer höherer Gewalt zu entlassen. Die Folgen dieser Reform kann man am Dienstag unter anderem in der Zeitung De Standaard lesen: Die Zahl der formellen Wiedereingliederungsverfahren ist regelrecht eingebrochen - von fast 11.000 Verfahren im ersten Quartal 2022 auf nur noch etwa 2.200 Verfahren im ersten Quartal dieses Jahres. Das entspricht einem Rückgang um fast 80 Prozent.
Im gleichen Zeitraum sind außerdem auch Entlassungsprozeduren wegen medizinischer höherer Gewalt in die Höhe geschossen, ihre Zahl hat sich nämlich verzehnfacht. Es überrascht also nicht wirklich, dass Minister Dermagne das jetzt als Beweis für massiven Missbrauch des alten Systems zur Wiedereingliederung durch die Arbeitgeber sieht.
Aber das ist nicht die einzige Lesart, wie Lode Godderis, Professor für Arbeitsmedizin und Geschäftsführer eines externen Präventionsunternehmens, in der VRT erklärt. Das unterstreicht im Übrigen auch die flämische Unternehmerorganisation Unizo, die die Analyse Dermagnes als einseitige Stimmungsmache gegen Arbeitgeber angreift.
Informelle Verfahren
Neben dem reformierten formellen Verfahren gebe es nämlich auch noch informelle Verfahren. Die Zahl dieser informellen Verfahren sei seit der Reform enorm gestiegen. Informelle Wiedereingliederungsverfahren böten verschiedene Vorteile. Zum einen seien dazu keine verwaltungstechnischen Schritte notwendig. Denn laut Unizo beklagen sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer, wie komplex und administrativ aufwändig das neue Verfahren ist. Das informelle Verfahren führe auch häufiger zu einer tatsächlichen Rückkehr der Langzeitkranken an ihren Arbeitsplatz.
Godderis wirft auch eine ganz grundsätzliche Frage auf, nämlich die nach dem eigentlichen Ziel: Wolle man den Betroffenen bei der Rückkehr auf den Arbeitsmarkt helfen? Oder wolle man eine Wiedereingliederung nur dann als gelungen betrachten, wenn jemand wieder auf seinem alten Job bei seinem alten Arbeitgeber arbeite? Für ihn eine rhetorische Frage: Eine angepasste Tätigkeit in einer neuen Stelle sei immer besser als weiter dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung zu stehen, so der Arbeitsmediziner sinngemäß. Je länger jemand ausfalle, desto geringer die Erfolgschance auf Wiedereingliederung.
Deshalb sei es auch so wichtig, Langzeitkranke möglichst schnell von Spezialisten begleiten zu lassen. Für Godderis muss deswegen vor allem für informelle Verfahren geworben werden. Denn sie machten es auch unmöglich, Menschen mit der Begründung medizinische höhere Gewalt zu kündigen. Das mache es zum für Arbeitnehmer sichersten und wirksamsten Weg.
Boris Schmidt
Die "Experten" sollten sich die Probleme der Langzeitkranken anhören...