"Jane Doe" sagt der Angelsachse. Gemeint ist damit eine Frau, die tot aufgefunden wurde oder die bewusstlos in einem Krankenhaus liegt, und die man nicht identifizieren kann. Keine Papiere, keine sonstigen Hinweise, eine Unbekannte eben. Das männliche Gegenstück einer nicht identifizierten Person heißt übrigens "John Doe". Das wäre also so etwas wie der tote "Max Mustermann". Wie dem auch sei: Manchmal, im schlimmsten Fall, behält ein weibliches Mordopfer über Jahrzehnte nur diesen einen Namen Jane Doe, eben weil sie nie identifiziert, geschweige denn der Mord aufgeklärt, werden konnte.
22 solcher "Jane Does" sind im Moment auf einer Webseite aufgelistet, die Interpol vor einiger Zeit online gestellt hat. 22 Frauen, die in Belgien, Deutschland und den Niederlanden in den letzten Jahren beziehungsweise Jahrzehnten tot aufgefunden wurden, die offensichtlich eines gewaltsamen Todes starben, denen aber nie ein Name zugeordnet werden konnte. Gezeigt wird alles, was irgendwie bei der Identifizierung helfen könnte: Kleidungs- oder Schmuckstücke, die das Opfer trug, besondere Kennzeichen, und sogar Versuche der Forensiker, das Gesicht des Opfers zu rekonstruieren. Das Ganze hat natürlich irgendwie was von einem Online-Horrorkabinett. Aber das ist Mittel zum Zweck. Denn: Operation "Identify Me" soll eben, wie der Name es schon sagt, dabei helfen, diesen Frauen endlich identifizieren zu können. Manche dieser Fälle sind fast 50 Jahre alt.
Eine dieser "Janes Does" hat seit Kurzem nun tatsächlich einen Namen. "Schon einige Tage nach dem Start der Interpol-Seite ist bei der zuständigen Sonderkommission eine E-Mail eingegangen", sagte in der VRT Kristof Aerts, Sprecher der Antwerpener Staatsanwaltschaft. Demnach hatte eine Person die Tätowierung einer der unbekannten Frauen erkannt und sie eben als ein Familienmitglied identifiziert. Besagtes Tattoo zeigt eine dunkelfarbene Blume, wahrscheinlich eine Rose, darunter eine etwas kryptische Aufschrift: 'R'nick. Darüber hinaus fand man nur einige eher banale Kleidungsstücke und ein Paar Schuhe. Die sterblichen Überreste der Frau, der das gehörte, waren am 3. Juni 1992 in einem Park im Antwerpener Stadtteil Deurne entdeckt worden. Identifiziert werden konnte sie nie. Und es war die eher außergewöhnliche Tätowierung, die der Absender der besagten E-Mail also erkannt hatte. "Wir wissen jetzt, dass es sich um Rita Roberts handelt", sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft. "Die Frau stammt aus Großbritannien, genauer gesagt aus Cardiff in Wales. Sie ist erst einige Monate vor ihrem Tod auf den europäischen Kontinent umgezogen. "
Rita Roberts war zum Zeitpunkt ihres Todes 31 Jahre alt. Im Februar 1992 war sie von Cardiff nach Antwerpen gekommen. "Viel mehr wissen wir nicht", sagt der Justizsprecher. Womöglich ist Rita zwischenzeitlich in den Niederlanden gewesen, man weiß aber nicht, warum. Anscheinend hat sie mit einem Mann zusammengelebt, den man auch ausfindig machen konnte. Die letzten Tage ihres Lebens liegen aber noch ziemlich im Dunkeln. Wie die Zeitungen Het Nieuwsblad und Gazet van Antwerpen berichten, war das letzte Lebenszeichen von Rita Roberts eine Postkarte, die sie aus Antwerpen an ihre Familie geschickt hatte. Die Karte trägt den Poststempel des 6. Mai 1992. Das war also ziemlich genau ein Monat, bevor man ihre sterblichen Überreste fand.
"Die Information, wonach Rita identifiziert wurde, war schockierend und herzzerreißend, wird ein Sprecher der Familie Roberts zitiert. "Unsere liebe und energiegeladene Schwester wurde uns auf brutale Weise genommen." Nur von wem? Diese Frage beschäftigt jetzt natürlich auch die Ermittler. Denn der logische nächste Schritt ist natürlich, den Mordfall jetzt auch zu lösen. Deswegen lanciert die Antwerpener Justiz denn auch einen Zeugenaufruf, in der Hoffnung, doch noch Licht in den Fall zu bringen. Die belgischen Behörden arbeiten da auch eng mit den britischen Kollegen zusammen.
Neben Rita Roberts stehen übrigens noch sechs weitere Frauen auf der Interpol-Liste, deren sterbliche Überreste in Belgien aufgefunden wurde. Der Fall Rita Roberts zeigt, dass die Hoffnung immer noch berechtigt ist, dass man auch diesen Jane Does irgendwann wieder ihren richtigen Namen geben kann.
Roger Pint