Abdessalem Lassoued war seit zwölf Jahren in Europa. Seine Odyssee quer über den Kontinent konnte durch die Medien in den verschiedenen Ländern rekonstruiert werden. Kleiner Ausschnitt: In den Wirren des arabischen Frühlings verlässt Lassoued 2011 - wie so viele - seine Heimat Tunesien an Bord eines kleinen Bootes. Er kommt an auf der italienischen Insel Lampedusa. In Italien bekommt er einen Flüchtlingsstatus, er reist aber wenig später nach Norwegen, wo er einen Asylantrag stellt. Der wird abgelehnt und Lassoued wird zurück nach Italien geschickt. 2012 taucht er in Schweden auf, wird aber wenig später schon wegen Drogenvergehen zu zwei Jahren Haft verurteilt. 2014 wird er aus dem Gefängnis entlassen und des Landes verwiesen: Er ist für zehn Jahre unerwünscht in Schweden: Persona non grata.
Eben von dieser Episode wussten die belgischen Behörden nichts. Im Lichte der Ereignisse vom Montagabend ist das aber keine Fußnote. Denn es ist nicht auszuschließen, dass Abdessalem Lassoued wegen seiner Ausweisung einen Groll auf Schweden hegte. "Hätten wir über diese Information verfügt, dann hätten wir wohl ein genaueres Bild von dieser Person gehabt", sagte Justizminister Vincent Van Quickenborne am Mittwochabend im zuständigen Kammerausschuss. Der Informationsaustausch zwischen europäischen Ländern verlaufe immer noch nicht, wie es sein sollte.
Zurück zu Abdessalem Lassoued: 2016 ist er in Italien und wird von den dortigen Sicherheitsbehörden als "radikalisiert" eingestuft. 2019 taucht er erstmals in Belgien auf. Er stellt einen Asylantrag, der ein Jahr später abgelehnt wird. 2021 wird ihm eine Ausweisungsverfügung zugestellt, wird er angewiesen, das Staatsgebiet zu verlassen. Das hat er nie getan. Lassoued lebte seither illegal in Belgien. Das Ende ist leider bekannt: Am vergangenen Montagabend schoss er mit einer Kriegswaffe auf schwedische Fußballfans, tötete zwei von ihnen, ein dritter wurde schwer verletzt.
Geschätzt 112.000 Illegale in Belgien
Bei der politischen Aufarbeitung ging es bislang vor allem um die Tatsache, dass der Mann seit 2021 eigentlich gar nicht mehr hier sein durfte. Er war damit nur einer von geschätzt 112.000 Menschen, die sich illegal in Belgien aufhalten. Das Phänomen ist seit Jahren bekannt und auch Asylstaatssekretärin Nicole de Moor redete im Ausschuss nicht um den heißen Brei herum. "Ganz ehrlich: Wir haben in diesem Land ein Problem mit illegalem Aufenthalt", sagte de Moor.
"Wir haben dasselbe Problem in Schweden", räumte der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristersson ebenso freimütig ein. "Auch in Schweden leben sehr viele Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, die aber das Land nicht verlassen wollen." Deswegen könne er Belgien auch keinen Vorwurf machen. Ulf Kristersson war am Mittwoch in Brüssel, um einer Gedenkfeier für die Opfer des Anschlags beizuwohnen
Aber nicht nur in Belgien, auch auf EU-Ebene dürfte das Thema Asyl und Migration - jetzt erst recht - wieder ganz oben auf der Agenda stehen. Belgien übernimmt Anfang kommenden Jahres für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Die Föderalregierung hätte dann die Möglichkeit, auf der Ebene was zu bewegen, die auch wirklich was bewegen kann.
Täter in Park gesehen
Über den Anschlag an sich wurden inzwischen auch noch neue Einzelheiten bekannt. Genau gesagt über die unmittelbare Zeit danach. Die Zeitungen der Sudmedia-Gruppe hatten aufgedeckt, dass zwei Polizisten den Täter anderthalb Stunden nach den tödlichen Schüssen gesehen hatten. Das war in einem Park in Schaerbeek. Sie hätten aber nicht eingreifen dürfen und den Mann danach aus den Augen verloren. Innenministerin Annelies Verlinden hat die Meldung am Mittwochabend bestätigt. Die Einsatzleitung habe so entschieden, weil man die Polizisten nicht habe in Gefahr bringen wollen, sagte Verlinden in der VRT. Zudem habe man nicht garantieren können, dass der Zugriff auch wirklich erfolgreich durchgeführt werden konnte.
Gemeint ist auch, dass man offensichtlich nicht ein Feuergefecht in einem Park riskieren wollte. Sie habe aber uneingeschränktes Vertrauen in die Polizei, sagte Verlinden. Sie sei davon überzeugt, dass die Einsatzleitung zu jedem Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen getroffen habe.
Roger Pint