Der erste von zwei Gottesdiensten am Sonntagmorgen in der Sankt-Paulus-Gemeinde in Brüssel neigt sich dem Ende entgegen. Wenige Augenblicke später erklingt die Orgel das letzte Mal. Die gut 30 Gottesdienstbesucher verlassen den Kirchenraum, aber nicht unbedingt das Gebäude. Denn in den Vorräumen wird Kaffee angeboten. Einige bleiben dort, greifen zu oder unterhalten sich auch ohne Stärkung noch etwas über dies und das.
Über den neuen Skandal bei der katholischen Kirche in Belgien wird allerdings nicht gesprochen. Denn die meisten der noch verbliebenen Gottesdienstbesucher haben von der Aufregung der vergangenen Woche überhaupt nichts gehört.
Eine junge Mutter allerdings weiß ziemlich gut, worum es geht. Und auch zwei andere Gottesdienstbesucher geben an, "natürlich" von dem Konflikt gehört zu haben. Frage also an alle drei: Was ihr Vorschlag sei, wie in Belgien Politik, Gesellschaft und katholische Kirche auf die mangelhaft erfolgte Aufarbeitung der Missbrauchsfälle reagieren sollte?
"Der Bischof von Antwerpen hat ganz gut reagiert", findet die junge Mutter. Er unterstütze auch den Vorschlag der Politik, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzurichten. "Das finde ich gut, aus Transparenzgründen." Dass auch über die Finanzierung der Kirche gesprochen werden soll, sei sicher ein heikles Thema. Und sie selbst habe dazu auch keine eigene Meinung.
Gesellschaft und Politik seien jetzt wohl nicht mehr unbedingt gefragt, sagt ein Gottesdienstbesucher. Denn da hätte es schon Antworten gegeben in der Vergangenheit. Die katholische Kirche selbst allerdings müsse dem Problem innerhalb ihrer eigenen Strukturen weiter auf den Grund gehen. Wobei zu beobachten sei, dass viele sich bei der Verfolgung der Vorfälle doch sehr schwer täten. "Das ist sicher ein großes Dilemma, mit dem die katholische Kirche sehr zu kämpfen hat, und wo sie sich in der Vergangenheit auch sehr unglücklich verhalten hat."
Ein ältere Dame sagt: "Ich glaube, die meisten Leute erwarten Bestrafung." Wenn es dabei um richtige Bestrafung gehen sollte, dann sei das natürlich richtig. Doch wenn es um Rache oder Hetze gegen die Kirche gehen sollte, da wäre sie dagegen. Denn wie überall gäbe es eben auch in der Kirche Menschen. "Und Menschen sind so, wie sie sind: Es gibt gute und es gibt schlechte Menschen, oder?" gibt die Dame zu bedenken.
Kay Wagner
Herr Wagner.
Sie machen sich unnötig Sorgen.
Leere Kirchen bedeuten nicht viel. Es bedeutet nur, daß die Menschen irgendwo anders religiös und spirituell auf der Suche sind. Der Mensch ist von Natur aus ein religiöses Wesen. Und wenn eine Religion verschlissen ist, kommt die nächste. War schon immer so. Das Christentum löste auch die römischen Götter ab. Und jetzt wird das Christentum abgelöst. Von was, muss sich noch herausstellen.
Es ist keinesfalls so, dass Menschen, die sich vom Christentum abwenden sich einer anderen Religion oder einem anderswie gearteten Glauben zuwenden. Zumindest nimmt in Europa die Zahl der Gläubigen stetig ab, in den skandinavischen Ländern spielt Religion und Glaube nur noch eine völlig untergeordnete Rolle.
Und nein, dieser religiöse Glaube wird nicht durch eine “Klimareligion” abgelöst.
Das Christentum hat die römischen Götter abgelöst, weil es von den politischen Machthabern so verfügt wurde. Der römische Kaiser Konstantin und später Kaiser Theodosius waren es, die das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches erhoben. Ohne diese politischen Entscheidungen im 4. Jahrhundert wäre das Christum möglicherweise eine religiöse Sekte geblieben oder längst verschwunden.
Auch ist die Frage, ob der Mensch ein “religiöses Wesen” ist, keinesfalls so apodiktisch zu beantworten. Zwar hat Religion in der Evolution ab Herausbildung des menschlichen Bewusstseins eine Rolle gespielt, eine einheitliche menschliche religiöse Neigung gibt es längst nicht mehr.