Passiert es, oder passiert es nicht?
Viele hatten im Vorfeld der Eidesleistung von Philippe ein mulmiges Gefühl. Denn bei seinen beiden Vorgängern war es genau in diesem historischen Moment zu Zwischenfällen gekommen. Genauer gesagt: Zwischenrufen.
Bei der Eidesleistung von König Baudouin rief einer der Anwesenden "Vive la République!". Dieser Ausruf wurde dem kommunistischen Parlamentarier Julien Lahaut zugeschrieben, der später – wahrscheinlich deswegen – ermordet wurde. Als König Albert 1993 den Eid auf die Verfassung leistete, beschwor der flämische Anarcho-Politiker Jean-Pierre Van Rossem lauthals die "République d'Europe", was immer das sein sollte. Die Eidesleistung eines neuen Königs ist in jedem Fall immer ein besonders heikler Moment.
21. Juli 2013: Seit 10:45 Uhr ist das Land ohne König. Albert der Zweite hat offiziell abgedankt. Gut eine Stunde später treten die sogenannten "Vereinigten Kammern" zusammen, also im Wesentlichen der Senat und das Abgeordnetenhaus, aber inzwischen erweitert durch Vertreter insbesondere der Teilstaatenparlamente.
Zuallererst nehmen diese "Vereinigten Kammern" die Abdankung von König Albert dem Zweiten zur Kenntnis. Dann wird die Sitzung unterbrochen, bis der Hauptakteur des heutigen Tages das Halbrund betritt: Der König. Der damalige Kammerpräsident André Flahaut bittet ihn, in den drei Landessprachen den Eid auf die Verfassung abzulegen.
Um 12:11 Uhr ist es vollbracht
Passiert es, oder passiert es nicht? Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt: Kein Zwischenruf. Nicht bei der deutschen Version, und auch nicht bei der Eidesleistung in den beiden anderen Landessprachen. Dem einen oder der anderen mag da ein Stein vom Herzen gefallen sein.
Es ist 12:11 Uhr, es ist "vollbracht". Knapp anderthalb Stunden nach der offiziellen Abdankung von Albert dem Zweiten hat das Land einen neuen König.
Philippe wirkt fast schon überraschend selbstsicher und souverän, "königlich" eben. Diese erste Prüfung hat der wegen seines hölzernen Auftretens oft viel geschmähte Philippe mit Bravour bestanden.
Teilstaaten in der ersten Reihe
Auffallend ist, welchen Platz die Teilstaaten bei der Zeremonie einnehmen. Der "föderalstaatlichen" Realität des Landes wurde konsequent und folgerichtig Rechnung getragen. Wie schon bei der Abdankungszeremonie saßen die Vertreter der Regionen und Gemeinschaften buchstäblich in der ersten Reihe.
Und auch der neue König Philippe bekannte sich – mehr noch als sein Vater vor 20 Jahren – zu eben dieser neuen politischen Wirklichkeit. Die Stärke Belgiens gehe auch von seinen Teilstaaten aus. Und er werde konstruktive Beziehungen mit deren Vertretern pflegen. Und wie schon sein Vater bricht auch Philippe eine Lanze für den Zusammenhalt des Landes und auch für die europäische Integration.
Draußen warten derweil schon Abertausende von Schaulustigen darauf, endlich den neuen König zu sehen. Darunter sind auch viele Neugierige aus Ostbelgien. Quasi ganz Brüssel feiert an diesem wunderschönen, sonnigen Tag.
Der neue König nimmt mehrmals ein Bad in der Menge und präsentiert sich auch zusammen mit Königin Mathilde auf dem Balkon des Stadtschlosses, unter anderem am Abend nach dem großen Feuerwerk. Dabei bedankt er sich noch einmal für den schönen Tag. "Lassen Sie uns stolz sein auf unser schönes Land."
Bilanz und Einschätzung
Nun ist es genau zehn Jahre her, dass König Philippe den Thron bestiegen hat. Zeit für eine erste Bilanz. Man hat es dem damaligen "Prinzen" Philippe schlicht und einfach nicht zugetraut, dass er irgendwann in die Fußstapfen seines Vaters Albert treten könnte. Doch schon am 21. Juli 2013 hatte man den Eindruck: Der Mann ist wie ausgewechselt. Bei seiner Eidesleistung in der Kammer wirkte Philippe selbstsicher, souverän, eben "königlich".
Philippe ist natürlich immer noch ein zurückhaltender, reservierter Mann, er ist nicht über Nacht zum "Klassenclown" geworden. Aber seine Fähigkeiten, seine Autorität, seine Legitimität würde heute niemand mehr infrage stellen. Aus heutiger Sicht wirken die Zweifel von damals tatsächlich sogar irgendwie unverständlich.
Philippe hat seinen Kritikern nie eine Angriffsfläche geboten. Allenfalls gab es da einen Fauxpas, nämlich das berühmte Morgenrock-Foto. Ende 2015 gab es ja nach den Pariser Anschlägen in Brüssel einen Lockdown, weil Terrorwarnstufe vier ausgerufen worden war. Das öffentliche Leben kam zum Erliegen. Und dann tauchte das Foto von König Philippe auf, der sich zu dem Zeitpunkt in einem Kurhotel in Frankreich aufhielt.
Aber es geht auch positiver. Man hat in den letzten Jahren immer wieder mal Aktionen gesehen, die früher absolut undenkbar gewesen wären. Zum Beispiel ein Video, das den König beim Kite-Surfen zeigt. Oder das Video, bei dem der König die Rolle des Nationaltrainers übernimmt und den Spielern Anweisungen gibt. Das ist richtig gut gemacht. Den Machern ist dabei ein ganz schwieriger Spagat gelungen: Das Video ist lustig und mit einem Augenzwinkern, aber eben nicht zu lustig oder zu locker - das Ganze behält eine gewisse Würde. Das muss man auch erstmal hinkriegen: Der König zeigt sich locker, bleibt aber doch immer noch königlich.
Königin Mathilde gelingt es perfekt, ihren Mann nicht in den Schatten zu stellen. Für den Palast ist diese Frau ein Geschenk des Himmels, weil sie ein Naturtalent ist. Sie hat eine unglaubliche Präsenz, sie weiß, mit Menschen umzugehen, aber sie überstrahlt bei alledem nicht ihren Mann. Man kann spekulieren, dass es Mathilde war, die Philippe von dem hölzernen, unbeholfenen Prinzen in das souveräne Staatsoberhaupt verwandelt hat, das wir jetzt kennen.
Und die Art und Weise, wie die beiden ihre Tochter Elisabeth an ihre künftige Rolle als Königin heranführen, ist ebenfalls beispielhaft. Also das Ganze ist hyper-professionell, aber zugleich auch sehr warm und menschlich.
Zehn Jahre König Philippe - Alberts Thronverzicht und Abdankung
Roger Pint