3. Juli 2013. Das alljährliche Sommerloch wirft schon seine Schatten voraus. Das Leben geht in den Ferienmodus. Auch in der Rue de la Loi wird es hörbar leiser. Bis gegen 14:30 Uhr eine Eilmeldung über die Ticker läuft: König Albert der Zweite wolle sich um 18 Uhr in einer Rede an die Bevölkerung wenden. Auf allen Kanälen.
Bei der Politik und in allen Redaktionen des Landes schrillen die Alarmglocken. Denn man muss keine übersinnlichen Fähigkeiten haben, um zu ahnen, dass das eine äußerst wichtige Rede sein dürfte. Schnell macht das Wort "Thronverzicht" die Runde.
Im ganzen Land schaut man gebannt auf die Fernsehbildschirme oder dreht das Radio lauter. In den nächsten Minuten wird es Gewissheit geben. Und die ersten Worte von König Albert dem Zweiten scheinen die Spekulationen gleich zu bestätigen.
Tief gerührt sei er. Und der König verweist dann gleich auf sein Alter. Er sei nun in seinem achtzigsten Lebensjahr. Und er könne nur feststellen, dass sein Alter und auch seine Gesundheit es nicht mehr zuließen, sein Amt so auszuüben, wie er sich das wünsche.
Damit ist im Grunde schon alles gesagt. Dann wird der König aber noch deutlicher: Nach 20 Jahren im Amt sei nun der Zeitpunkt gekommen, die Fackel an die nächste Generation weiterzureichen.
Sein Sohn, Prinz Philippe, sei zudem gut auf seine künftige Rolle vorbereitet. Er, und auch seine Frau, Prinzessin Mathilde, würden sein volles Vertrauen genießen. Er werde also am 21. Juli 2013, dem Nationalfeiertag, zu Gunsten seines Sohnes abdanken, sagt Albert. Was aber nicht bedeute, dass er danach von der Bildfläche verschwinden würde.
Die Welt in Belgien ist eine andere
Eine Rede von rund siebeneinhalb Minuten, die das Land regelrecht auf den Kopf stellt. Albert der Zweite will abdanken! Und das schon am Nationalfeiertag, also in weniger als drei Wochen! Damit hat niemand gerechnet. Wirklich niemand, denn anscheinend wurde sogar der damalige Premierminister Elio Di Rupo von der Ankündigung kalt erwischt.
Auch der Premier soll erst an jenem 3. Juli von den Absichten des Staatsoberhauptes erfahren haben. Di Rupo soll den König daraufhin noch darum gebeten haben, sich das Ganze nochmal zu überlegen. Albert blieb aber bei seiner Entscheidung, und die Geschichte nahm ihren Lauf.
An diesem 3. Juli 2013 spätestens um 18:08 Uhr ist die Welt zumindest in Belgien eine andere. König Albert der Zweite hatte dem Land nach dem plötzlichen Tod seines Bruders Baudouin am 31. Juli 1993 fast 20 Jahre lang Stabilität gegeben. Er war so etwas wie der Fels in der Brandung, vor allem in schwierigen Zeiten, etwa während der 541-Tage-Krise von 2010-2011, als das Land gut anderthalb Jahre ohne Föderalregierung war.
Kann er es, oder kann er es nicht?
Irgendwie fühlt es sich so an, als verlöre man eine Vaterfigur. Hinzu kommen dann aber auch noch Zweifel in Bezug auf den Nachfolger, Prinz Philippe. Der wird in verdammt große Fußstapfen treten müssen; und viele sprechen ihm die erforderliche Kragenweite ab.
Am Vormittag des 4. Juli äußert sich Prinz Philippe am Rande einer Fachtagung erstmals zu der neuen Entwicklung. Er sei sich der Verantwortung bewusst, die jetzt auf seinen Schultern laste, sagte der Thronfolger. Und da ist er wieder: Der hölzerne und verkrampfte Philippe, wie man ihn bis dahin kannte.
"Kann er es, oder kann er es nicht?" Diese Frage sollte die Medien und die Öffentlichkeit über die nächsten 17 Tage beschäftigen. Und das alles ist freilich Wasser auf den Mühlen von eingefleischten Republikanern, insbesondere in Flandern.
Sportlicher Zeitplan
Parallel dazu muss aber eben auch binnen 17 Tagen ein Thronwechsel organisiert werden. Das ist zwar ein ziemlich "sportlicher" Zeitplan, nur hat der Termin einen Vorteil: Am 21. Juli finden ja ohnehin die Feierlichkeiten eben zum Nationalfeiertag statt. Man muss die also eigentlich nur noch ein wenig "aufblasen".
Was nicht heißt, dass das Ganze ein Selbstläufer wäre. Enorm viel muss vorbereitet werden, insbesondere im Parlament, wo in der Kammer anstelle des Rednerpults ein großes Podest installiert werden muss, auf dem der künftige neue König seinen Eid auf die Verfassung leisten kann.
An den vorangehenden Tagen wird geprobt, was das Zeug hält. Und dann ist er da, der 21. Juli 2013. Der Nationalfeiertag beginnt noch ganz "klassisch" mit dem traditionellen Te Deum in der Brüsseler Kathedrale Sankt Michael und Sankt Gudula. Im Anschluss bewegt sich der ganze Tross zum Brüsseler Stadtschloss. Im Thronsaal wird es dann ernst.
Um 10:20 Uhr betreten die ersten Mitglieder der Königsfamilie den Saal. Exakt fünf Minuten später folgen König Albert mit Königin Paola und das Thronfolgerpaar: Philippe und Mathilde.
Was nun folgt, ist historisch. Noch nie hat ein König der Belgier freiwillig auf den Thron verzichtet. 1950-51 hatte König Leopold der Dritte unter Zwang abgedankt.
Ein dicker Kuss
König Albert der Zweite spricht zunächst nochmal allen seinen ausdrücklichen Dank aus, die ihm in den letzten knapp 20 Jahren mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Dann wird es sehr persönlich.
Der König bedankt sich bei seiner Gattin, Königin Paola. Dabei weicht er -mit bewegter Stimme- vom ursprünglichen Redetext ab. "Vielen Dank und ein dicker Kuss..." Langer Applaus. Königin Paola zu Tränen gerührt. Ein bewegender Moment. Dieser "gros kiss" ging seinerzeit sogar im Internet viral.
Nach diesem emotionalen Zwischenspiel wird es dann aber gleich wieder betont nüchtern. Albert spricht seinem Sohn und Nachfolger Philippe und auch dessen Frau Mathilde noch einmal sein vollstes Vertrauen aus: "Du besitzt das Herz und die Intelligenz, um unserem Land bestmöglich dienen zu können".
König Albert beschließt seine Abdankungsrede mit den Punkten, die ihm schon immer am Herzen gelegen haben: Ein Plädoyer für die Einheit des Landes und die europäische Integration. Nach einer kurzen Rede von Premierminister Elio Di Rupo wird es dann sehr formal. Die föderale Justizministerin Annemie Turtelboom verliest die Abdankungsurkunde.
Ende einer Ära
Ein Text, der also den Thronverzicht besiegelt. Ein juristischer Akt, den der König um 10:45 Uhr offiziell unterzeichnet. Albert, der vor fast 20 Jahren, am 9. August 1993, eher überraschend die Nachfolge seiner Bruders Baudouin angetreten hatte, dieser Albert der Zweite ist nicht mehr König der Belgier. Es ist das Ende einer Ära.
Das hat aber auch ganz praktische Konsequenzen: Erstmal ist das Land nämlich für knapp anderthalb Stunden ohne König. Die Eidesleistung von Prinz Philippe muss ja erst noch kommen. Es ist das erste Mal, dass die Belgier unter einem König wachgeworden sind und unter einem anderen zu Bett gehen. Der Nationalfeiertag 2013, ein in vielerlei Hinsicht historischer Tag.
Zehnjähriges Thronjubiläum: König Philippe leistet den Eid auf die Verfassung
Roger Pint