Zusammen mit der Zeitung "De Standaard" hat die VRT Mitte März gut 2.000 Flamen von Experten der Universitäten Antwerpen und Brüssel befragen lassen zu Themen der Aktualität. Am Montag nun hat die VRT Teile der Ergebnisse veröffentlicht. Das Bild: kein positives.
"Bei allen Fragen, die wir zur aktuellen wirtschaftlichen Lage stellen, fallen die Antworten negativ aus, stehen die Indikatoren auf rot", sagte am Montagvormittag im Radio der VRT Stefaan Walgrave, Politikprofessor an der Universität Antwerpen und einer der beiden Leiter der Umfrage. "Zum Beispiel finden 62 Prozent der Flamen, dass die belgische Wirtschaft im europäischen Vergleich zurückgefallen ist in den vergangenen zwölf Monaten. Dass die Armut gestiegen ist, die Schere zwischen Arm und Reich bei Einkommen und Vermögen zugenommen hat, und dass auch die Kaufkraft gesunken ist."
Dieser Eindruck sei nicht nur ein allgemeiner, sondern würde sich auch bestätigen, wenn nach der Situation im eigenen Haushalt gefragt werde. Auch da würden 45 Prozent der Menschen angeben, dass sich ihre Lage verschlechtert habe.
"Mehr ein Gefühl als eine wirtschaftliche Tatsache"
Objektiv betrachtet entspreche das jedoch nicht der Wirklichkeit. "Es ist mehr ein Gefühl als eine wirtschaftliche Tatsache", sagt dazu Professor Walgrave. "Es stimmt natürlich, dass einige Menschen es schwerer haben. Aber wenn man sich den Durchschnitt in Flandern anschaut, dann sieht man, dass die Ungleichheit und die Armut nicht zugenommen haben und auch die Kaufkraft nicht gefallen ist. Das ist tatsächlich also allein ein Gefühl."
Unterstützung für diese Sicht bekommt Walgrave von Ive Marx, Professor für Sozial-Wirtschaft, ebenfalls an der Universität Antwerpen. Er lässt sich online von der VRT mit Sätzen zitieren wie: "Es gibt wenig Länder, in denen die Kaufkraft so stabil geblieben ist, wie in Belgien. Und das nicht nur während der aktuellen Zeit der hohen Inflation, sondern auch während der Corona-Krise".
Die Wahrnehmung der Menschen in Flandern weicht also deutlich ab von dem, was Wissenschaftler zur aktuellen Situation sagen.
Paradox zwischen Wahrnehmung und Realität
Ähnliches gilt für die Bemühungen der politischen Parteien, etwas gegen den Verlust der Kaufkraft getan zu haben. Wer denn am meisten getan habe, wollten VRT und De Standaard in ihrer Umfrage wissen. "Keine einzige Partei" sei die Antwort von fast einem Drittel der Befragten gewesen, berichtet Walgrave. Und fasst dann das Ergebnis der Umfrage wie folgt zusammen: "Viele Menschen haben den Eindruck, dass es allgemein schlecht läuft und dass es ihnen schlechter geht. Für einige Menschen ist das sicher der Fall, aber für die Allgemeinheit stimmt das nicht. Und das ist doch eigentlich ein Paradox."
Dieses Paradox zwischen Wahrnehmung und Realität werde mit großer Wahrscheinlichkeit auch Auswirkungen auf die Wahlen in einem Jahr haben. Parteien, die gefühlt nichts oder zu wenig tun, um den Bürgern zu helfen, würden es dann sehr schwer haben. "Es sieht danach aus, als ob da wirklich ein heftiger Sturm bevorsteht, unter dem die traditionellen Parteien mit Regierungsverantwortung am meisten leiden werden", sagte dazu Professor Walgrave.
Sprich: Die extremen Parteien könnten starken Zulauf erhalten. Und obwohl sich die Umfrage und die Analyse der Ergebnisse am Montag bei der VRT nur auf Flandern bezogen, kann man sich kaum vorstellen, dass eine Umfrage in ganz Belgien großartig andere Ergebnisse geliefert hätte - einschließlich der Schlussfolgerungen zu den Wahlen.
Kay Wagner