"Ja, was denn jetzt?", wird sich wohl schon so mancher gefragt haben, vor allem auch in den Chefetagen der großen Energiekonzerne. Noch zu Beginn der Legislaturperiode gab es eigentlich keinen Zweifel daran, dass 2025 in Belgien die letzten Reaktorblöcke abgeschaltet würden. Das Atomzeitalter sollte ein für allemal enden. So stand es im Gesetz, das in seinen Grundzügen auf 2003 zurückgeht, als die damalige Regenbogenkoalition den Atomausstieg beschlossen hatte.
Dann aber kam der Krieg in der Ukraine mit all seinen Folgen auch für die Energieversorgung. Die Krise führte den Europäern mit einem Mal ziemlich brutal vor Augen, wie abhängig sie insbesondere von russischem Öl und Gas waren. Und plötzlich wurde die Atomenergie in manchen Augen wieder "sexy". Wichtigstes Argument: Je mehr Atomenergie zur Verfügung steht, desto weniger Gas muss verstromt werden, insbesondere dann, wenn zu wenig Solar- bzw. Windenergie zur Verfügung steht.
Eben aus dieser Überlegung heraus wurde schon Mitte vergangenen Jahres beschlossen, gemeinsam mit dem Atomkraftwerksbetreiber Engie an einer Verlängerung der beiden jüngsten Reaktorblöcke Doel 4 und Tihange 3 zu arbeiten; dies für weitere zehn Jahre. Diese Absicht wurde Anfang dieses Jahres nochmal bekräftigt. Das war eigentlich schon der "Ausstieg aus dem Ausstieg".
Zwei problematische Winter
Jetzt könnte diese Tür aber nochmal weiter aufgestoßen werden. Inzwischen liegt nämlich ein Bericht des Hochspannungsnetzbetreibers Elia auf dem Tisch. Und der enthält eine alarmierende Feststellung: Für die Winter von 2025 und 2026 fehlt es an Kapazitäten. "Konkret", so legte es die grüne Vizepremierministerin Petra De Sutter in der VRT dar, "in diesen beiden Wintern werden wir in Spitzenzeiten mehr Elektrizität brauchen, als wir haben. Und das, was fehlt, kann nur mit Atomstrom aufgefangen werden. Zwei Gründe dafür: der Krieg in der Ukraine und nach wie vor die Zuverlässigkeitsprobleme mit den Atomkraftwerken in Frankreich".
Zwei problematische Winter also, in denen man zusätzlichen Atomstrom brauchen wird. Das dürfte der Groen-Politikerin nicht leicht über die Lippen gekommen sein. Nur: So steht es eben in dem Elia-Bericht.
Wie geht man jetzt damit um? Doel 3 und Tihange 2 fallen wohl erstmal aus; das sind ja die beiden Reaktorblöcke, die wegen der ominösen Materialschwächen an ihren Druckbehältern in Verruf stehen. Blieben also noch Doel 1 und 2 sowie Tihange 1. Das sind die drei ältesten Reaktoren; sie wurden Mitte der 1970er Jahre in Betrieb genommen. Eben diese drei Meiler sollen jetzt also das Problem lösen, indem man sie, wenn möglich, eben zwei Jahre länger am Netz lässt als ursprünglich geplant. Insgesamt stünden damit rund zwei Gigawatt mehr zur Verfügung.
"Das ist eine gute Lösung; weil wir damit Zeit gewinnen", sagte Egbert Lachaert, der Vorsitzende der Open VLD, am Wochenende in der VRT. Er ging aber noch einen Schritt weiter: "Warum denkt man nicht darüber nach, einen Reaktor wie Tihange 1 auch darüber hinaus noch weiter am Netz zu lassen? Also, ich wäre dafür", sagte Lachaert in der VRT. "Und, wenn das mit dem aktuellen Gesetz kollidiert, nun, dann muss das eben angepasst, um nicht zu sagen: ersetzt werden", sagt Lachaert.
Grüne gegen Neuformulierung des Gesetzes
"Kommt nicht infrage", reagierte aber die Groen-Vizepremierministerin Petra De Sutter. "Die alten Reaktorblöcke werden stillgelegt; so will es das Gesetz! Klar muss das angepasst werden. Aber nicht mehr als das. Mit dieser Regierung wird das Gesetz nicht grundlegend neuformuliert, so wie es Lachaert vorzuschweben scheint."
Doch stehen die Grünen damit zunehmend alleine da. Am Montagmorgen brach nämlich auch der CD&V-Vorsitzende Sammy Mahdi nochmal eine Lanze für die Kernenergie. "In den letzten Monaten sind wir uns unserer Abhängigkeit von Energieimporten nochmal schmerzlich bewusst geworden", sagte Mahdi in der RTBF. "Wir brauchen Atomstrom. Und wer jetzt immer noch am alten Gesetz festhalten will, nun, der weigert sich, der Realität ins Auge zu sehen."
Über der Vivaldi-Koalition scheint sich also ein neuer Sturm zusammenzubrauen. Dies umso mehr, als die oppositionelle N-VA schon signalisiert hat, dass sie für eine mögliche Wechselmehrheit zur Verfügung stünde.
Roger Pint