Am Freitagmorgen hat sich in der RTBF auch erstmals die Mutter von Olivier Vandecasteele geäußert. Auch sie appelliert noch einmal eindringlich an die Politik, alles zu tun, um die Freilassung ihres Sohnes zu erwirken. "Es ist höchste Zeit, dass das aufhört. Das Ganze ist nämlich unerträglich".
Annie Vandecasteele ringt während des Interviews mit den Tränen. Wer kann es ihr verdenken? Ihr Sohn sitzt seit fast elf Monaten in einem iranischen Gefängnis. Olivier Vandecasteele war am 24. Februar letzten Jahres in Teheran verhaftet worden. Wegen angeblicher Spionage. Gerade vor einigen Tagen erst wurde bekannt, dass man ihm auch schon den Prozess gemacht hat. Das Urteil muss ihm wie ein Hammerschlag vorgekommen sein: 40 Jahre Haft, und dann noch 74 Peitschenhiebe.
Spätestens dieser Gerichtsentscheid hat die Empörung in der Heimat dann aber auf die Spitze getrieben. Immer wieder werden Kundgebungen organisiert, um das Schicksal des 42-Jährigen anzuprangern, und um natürlich vor allem dessen Freilassung zu fordern. Die Mobilisierung nimmt jedenfalls immer mehr Fahrt auf. In einer gemeinsamen Aktion haben ausnahmslos alle frankophonen Zeitungen am Freitag ihre Titelseite ganz oder teilweise Olivier Vandecasteele gewidmet.
Das muss Balsam für die Seele von Annie Vandecasteele sein. Sie macht sich furchtbare Sorgen um ihren Sohn. Nur selten kann sie mit ihm direkt Kontakt aufnehmen. Erst muss der belgische Botschafter allerlei Schritte unternehmen, um dann am Ende ein meist kurzes Telefongespräch möglich zu machen. "Das letzte Mal haben wir kurz vor Weihnachten miteinander sprechen können", sagte sie in der RTBF. Es muss ein Videotelefonat gewesen sein, jedenfalls war sie offensichtlich erschrocken über den Anblick ihres Sohnes: "Man hat ihm die Strapazen der letzten Wochen und Monate angesehen", sagt Annie Vandecasteele. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends. Er ist abgemagert, hat offenbar 25 Kilo abgenommen. "Man muss ihn schnellstens da rausholen", sagt denn auch die besorgte Mutter.
Das allerdings ist bekanntermaßen nicht einfach. Die Regierung denkt ja darüber nach, Olivier Vandecasteele auszutauschen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die iranischen Behörden den Entwicklungshelfer aus Tournai aus genau diesem Grund überhaupt inhaftiert haben, eben mit Blick auf einen solchen Deal. Denn in Belgien sitzt ein Mann im Gefängnis, der das Regime in Teheran in höchstem Maße interessiert. Vor zwei Jahren war ein iranischer Ex-Diplomat von einem Gericht in Antwerpen zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Dieser Assadollah Assadi war für schuldig befunden worden, einen Terroranschlag vorbereitet zu haben. Zuschlagen wollten die Täter in Frankreich, das Attentat konnte aber vereitelt werden.
Wahrscheinlich ist es dieser Mann, der also in der Teheraner Waagschale liegt, immerhin ein verurteilter Terrorist. Und doch verabschiedete das Parlament vor einigen Monaten ein Abkommen, das einen Gefangenenaustausch möglich machen sollte. Besagter Vertrag konnte aber noch nicht in Kraft treten, da der Verfassungsgerichtshof die Akte blockiert hat. "Wir fühlen uns so machtlos", sagt Annie Vandecasteele hörbar verzweifelt. Sie behaupte ja nicht, dass die Regierung untätig geblieben wäre und ihren Sohn im Stich lasse. Es könne sich aber so anfühlen.
"Unser diplomatischer Spielraum ist sehr bescheiden", räumt Außenministerin Hadja Lahbib in der Zeitung L'Echo ein. Belgien verfüge nicht über wirklich wirkungsvolle Hebel, um auf das Regime in Teheran einzuwirken.
Dennoch: Die Regierung hat schon mehrmals versichert, dass man alles tun werde, um Olivier Vandecasteele heimzuholen. Gerade am Donnerstag hat auch das Parlament einstimmig eine Resolution verabschiedet, in der nachdrücklich die Freilassung des Entwicklungshelfers gefordert wird. Ebenfalls am Donnerstag hat das EU-Parlament in Straßburg eine ähnliche Resolution angenommen. Und darin wird auch die EU aufgefordert, eine härtere Gangart gegenüber dem Iran einzunehmen. Die Rede ist von möglichen neuen Sanktionen.
Annie Vandecasteele klammert sich derweil an das Prinzip Hoffnung. "Uns bleibt unser Gottvertrauen. Wir wissen, dass Olivier unschuldig, und dass seine Inhaftierung unrechtmäßig ist. Was besonders schmerzhaft ist: Olivier hat mit seiner Arbeit immer anderen geholfen; und jetzt wird er so ein bisschen im Stich gelassen."
Roger Pint