"Hat man das kommen sehen? Mag sein! Aber das ist doch das grausamste Szenario, das man sich vorstellen kann": Selbst dem Sprecher der Antwerpener Staatsanwaltschaft fehlen die Worte. Und der hat von Berufs wegen doch schon einiges gesehen.
Montagabend 18:30 Uhr, im Antwerpener Stadtteil Merksem. Fünf Schüsse krachen in der Dunkelheit. Drei Kugeln durchschlagen ein Garagentor. Aber dahinter befindet sich gar kein Fahrzeugstellplatz mehr, vielmehr wurde dort ein Zimmer eingerichtet. In diesem Zimmer befindet sich ein elfjähriges Mädchen. Das Kind wird schwer verletzt.
Die Kleine wird noch in die Notaufnahme gebracht, wo sie aber wenig später ihren Verletzungen erliegt, wie Polizeisprecher Willem Migom erklärt. Noch zwei weitere Minderjährige werden bei dem Vorfall verletzt, zum Glück aber nur leicht.
Wie genau das Mädchen verletzt wurde, ist noch unklar. Zunächst hatte es geheißen, ein Mikrowellenherd sei von einem Geschoss getroffen worden und daraufhin explodiert. Eine Autopsie habe aber inzwischen ergeben, dass das Kind von einer Kugel tödlich verletzt worden sei, sagt Kristof Aerts, Sprecher der Staatsanwaltschaft.
200 Zwischenfälle in Antwerpen
Das Viertel steht unter Schock. Doch eigentlich weiß jeder, was das war. Dass auf dem Stadtgebiet von Antwerpen schonmal Fassaden beschossen werden - so traurig es auch ist, aber daran hat man sich leider irgendwie gewöhnt. Wenn es nicht sogar Handgranaten sind, die in Wohnvierteln explodieren. Meist sind es Abrechnungen im Drogenmilieu oder Einschüchterungsversuche, um Leute aus den unterschiedlichsten Gründen unter Druck zu setzen. In den letzten fünf Jahren wurden in der Scheldestadt rund 200 Zwischenfälle dieser Art gezählt.
Merksem gilt als eine der Hochburgen der Antwerpener Drogenmafia. Pikantes Detail: Das tote Mädchen kommt sogar selbst aus einer Familie, von denen einige Mitglieder bei der Polizei doch einschlägig bekannt sind. Nicht die Eltern. Die werden nach Angaben der Justizbehörden nicht mit der Drogenkriminalität in Zusammenhang gebracht.
Es gibt allerdings noch zwei Onkel, die Brüder der Mutter des Mädchens. Einer von ihnen ist Othman El B., den Ermittler als den "größten Drogenschmuggler des Landes" bezeichnen. Wobei er anscheinend schon seit zehn Jahren in Dubai wohnt, von wo aus er seine Geschäfte regeln soll. "Ich habe absolut rein gar nichts mit dieser Unterwelt zu tun", beteuert aber dieser Othman El B. in der Zeitung Het Nieuwsblad, und bislang wurde er tatsächlich auch noch nie verurteilt.
Dieser Othman El B. versichert zudem in Het Nieuwsblad, dass seine Familie nicht mit Gewalt auf den Tod des Mädchens reagieren werde. Ganz im Gegenteil: Er biete vielmehr seine Zusammenarbeit an, zitiert ihn die Zeitung. Man wolle der Polizei dabei helfen, den Täter zu finden. Davon abgesehen werde es Zeit, dass die Polizei mal wirklich entschlossen auf die viel zu häufigen Zwischenfälle in Antwerpen reagiere, sagt Othman El B., also ein Mann, den die Polizei als einen der wirklich ganz dicken Fische betrachtet. Nun gut, in einem Rechtsstaat muss man ihm das freilich erstmal beweisen.
Tiefpunkt im War on Drugs
Der Tod des kleinen Mädchens ist in jedem Fall ein neuer Tiefpunkt im War on Drugs, der schon seit Jahren in Antwerpen wütet. "Was ich schon lange befürchtet habe, ist jetzt passiert", sagte in der VRT auch Bürgermeister Bart De Wever. "Es gibt das erste unschuldige Todesopfer. Und ausgerechnet ein Kind musste es treffen. Das ist sehr schmerzlich, kommt aber leider irgendwie mit Ansage."
Bart De Wever zeigt dann auch gleich wieder mit dem Finger auf die föderale Ebene, von der er sich seit Jahren mehr Unterstützung wünscht. Doch will man sich da den Schuh nicht anziehen. "Wir gehen doch längst gegen diese Gewalt vor", sagte Justizminister Van Quickenborne. "Regelmäßig werden die Täter inhaftiert, diese Leute füllen inzwischen schon einen ganzen Trakt im Antwerpener Gefängnis. Und hier geht es nicht nur um die Vollstrecker, sondern auch um deren Auftraggeber."
Auch die Innenministerin zeigt sich demonstrativ entschlossen. "Wir haben die Szene in letzter Zeit schon mächtig aufgemischt", sagt Annelies Verlinden. "Wir wissen, dass das die Drogenbanden ziemlich nervös macht. Wir werden aber weiter energisch durchgreifen; um diesen Leuten zu zeigen, dass das unsere Straßen sind, und dass wir die nie aufgeben werden."
Dennoch: Ein Kind ist tot. Und trotz der Beteuerungen des Onkels des Mädchens befürchtet jetzt so mancher Vergeltungsmaßnahmen. Und Racheakte würden die Gewaltspirale nur weiter befeuern.