Sicher ist bislang: Im polnischen Grenzgebiet zur Ukraine hat es eine Explosion gegeben, bei der zwei Menschen ums Leben gekommen sind. Nach Angaben der Regierung in Warschau wurde die Detonation von einer Rakete aus russischer Produktion ausgelöst.
Eine "Rakete aus russischer Produktion", das allein gibt aber noch keinen Hinweis auf denjenigen, der sie abgeschossen hat. Denn auch die ukrainische Armee setzt auch nach wie vor Waffen aus alten Sowjet-Beständen ein. Insbesondere das Flugabwehrraketensystem S-300 und angeblich handelt es sich bei der Rakete, die in Polen eingeschlagen ist, eben um ein solches Fabrikat.
US-Präsident Joe Biden hatte schon am Rande des G20-Gipfels auf Bali erklärt, dass die fragliche Rakete wahrscheinlich nicht von Russland aus abgefeuert worden sei. Auch die belgische Verteidigungsministerin Ludivine Dedonder schrieb auf Twitter, dass die Explosion in Polen durch ein Geschoss der ukrainischen Luftabwehr hervorgerufen worden sein könnte.
Viele Konjunktive und Fragezeichen also nach wie vor. Und deswegen sei es von größter Wichtigkeit, den Sachverhalt erstmal eingehend zu prüfen und die Ergebnisse geduldig abzuwarten, sagte Premierminister Alexander De Croo am Morgen in der VRT. Erst auf dieser Grundlage könne man darüber entscheiden, wie die Nato auf den Vorfall reagieren sollte. Bis dahin empfehle sich aber größte Zurückhaltung.
Allerdings wagte der Premier dann doch eine erste Einschätzung. Und die kann man mit einem Satz zusammenfassen: Gleich wer die Rakete abgeschossen hat, Schuld ist in jedem Fall der russische Beschuss. Am Dienstag habe die russische Armee eine massive Raketen-Salve auf die Ukraine abgefeuert. Getroffen wurden insbesondere zivile Ziele: Wohnhäuser und Infrastruktur.
"Eine solche Attacke hat natürlich robustes Luftabwehrfeuer zur Folge", sagt De Croo. "Und das hat wahrscheinlich in letzter Konsequenz die Explosion in Polen verursacht." Also: "Ohne russischen Beschuss kein ukrainisches Luftabwehrfeuer". Wie auch immer: Polen, ein Nato-Land, hat offensichtlich mindestens einen Kollateralschaden des Kriegs in der Ukraine abbekommen und dabei sind sogar Zivilisten getötet worden.
Eskalation vermeiden
Polen ist Mitglied der Nato. Und deswegen ist es nur normal, dass die Nordatlantische Verteidigungsallianz den Vorfall unter die Lupe nimmt. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat die Botschafter der 30 Mitgliedstaaten bereits zu einer Sondersitzung zusammengerufen.
Schon in der Nacht war aber schnell deutlich geworden, dass man eine Eskalation zunächst vermeiden wollte. Es überwogen die zurückhaltenden Reaktionen. Der ominöse Artikel fünf, also die Nato-Beistandsklausel, stand zu keinem Zeitpunkt ernsthaft zur Debatte. Sogar in Warschau, wo man eigentlich aus historischen Gründen besonders dünnhäutig selbst auf mutmaßliche russische Umtriebe reagiert, ließ man sich nicht zu ungestümen Aussagen hinreißen.
Bei der Krisensitzung der Nato-Botschafter werde es denn auch in erster Linie um Informationsaustausch gehen, um die Lage zu analysieren und zu bewerten, sagte Alexander De Croo. Und dann müssen wir natürlich auch hören, was Polen sich von den Verbündeten wünscht. Denn letztlich ist das Land ja als erstes betroffen. In jedem Fall stehen die Partner geschlossen hinter Polen. Schon am Abend hatte auch Premierminister De Croo dem Land sein Mitgefühl und seine Unterstützung zugesichert.
Auf die russischen Vorwürfe, wonach es sich bei dem Vorfall in Polen um eine "gezielte Provokation" handele, reagierte De Croo betont besonnen: "Wenn man sich die Reaktionen der Nato-Staaten anschaue, dann seien die durch die Bank doch sehr vorsichtig und mäßigend ausgefallen. "Und genau so sehen wir das auch."
Michel: Wir stehen an der Seite der Polen
Ähnlich wie De Croo äußerte sich auch EU-Ratspräsident Charles Michel, der die EU gerade beim G20-Gipfel auf Bali vertritt. Er sei schockiert über die Meldungen, wonach eine Rakete oder ein anderes Waffensystem in Polen Menschen getötet habe. "Wir stehen an der Seite der Polen", schreibt Michel.
Roger Pint