Der 1. September könnte für die belgische Justiz ein fast schon historisches Datum werden. Seit den 1970er Jahren mussten viele Menschen, die zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren oder weniger verurteilt wurden, nicht einmal eine einzige Nacht hinter Gittern verbringen.
Eine bewusste politische Entscheidung, wie die Vorsitzende des Richterbundes, Marie Messiaen, in der RTBF auslegte. Denn damit sollte - neben anfänglich auch noch pädagogisch-soziologischen Erwägungen - gegen das Problem der Überbelegung der belgischen Gefängnisse vorgegangen werden.
Seitdem man vor 50 Jahren damit begonnen habe, kurze Gefängnisstrafen systematisch nicht mehr zu vollstrecken, sei das Problem der Überbelegung aber nicht gelöst worden, erklärte Justizminister Vincent Van Quickenborne in der VRT. Mehr noch: Es habe sich ein Gefühl der Straflosigkeit eingestellt, also der Eindruck, dass Menschen nicht mehr wirklich wie vorgesehen für ihre Vergehen effektiv bestraft würden.
Das ist nicht das einzige Problem. Ein geradezu perverser Nebeneffekt dieser Praxis nicht vollstreckter kurzer Strafen sei gewesen, dass sich Staatsanwaltschaften und Richter auf diese neuen Realitäten eingestellt hätten, unterstreicht Marie Messiaen: dass die Staatsanwaltschaften von vornherein mehr als drei Jahre Haft forderten, um auch sicher sein zu können, dass der Verurteilte ins Kittchen wandere, und dass Richter ihre Urteile entsprechend schwerer ausfallen ließen, als rein theoretisch vielleicht angemessen gewesen wäre.
Fundament der Justiz
Es sei aber ein Fundament der Justiz, dass Strafen auch so vollstreckt würden, wie der zuständige Richter sie verhängt habe, so Justizminister Van Quickenborne. Deshalb würden auch kurze Strafen ab diesem Donnerstag eben systematisch ausgeführt. Hierbei geht es genauer gesagt erst einmal um Haftstrafen zwischen zwei und drei Jahren.
Ab 2023 sollen dann, laut den Plänen des Justizministers, auch Gefängnisstrafen unter zwei Jahren tatsächlich vollstreckt werden. Ziel sei, so das Vertrauen der Bürger in die belgische Justiz wiederherzustellen. Auch das sei wieder eine politische Entscheidung, stellt derweil die Vorsitzende des Richterbundes klar.
Aber das Problem der Überbelegung der Gefängnisse sei zwischenzeitlich nicht verschwunden, hebt Marie Messiaen hervor, im Gegenteil, es sei noch schlimmer geworden. Am vergangenen Montag etwa sollen in belgischen Gefängnissen schon über 1.000 Menschen mehr gesessen haben, als es eigentlich Plätze gibt.
Strafvollzugsanstalten zu voll
Quasi alle Strafvollzugsanstalten des Landes seien zu voll, bestätigte auch der Direktor des Gefängnisses von Namur, Marc Dizier, in der RTBF. Wenn also jetzt ab September wie angekündigt Hunderte Gefangener hinzukommen sollten, dann habe er keine Ahnung, wo die hingesteckt werden sollten - das trotz einer geplanten und teilweise umgesetzten Aufstockung der Kapazitäten.
Der Platz in den Zellen ist auch nur eines der Probleme, die sich in der Praxis stellen: Sowohl bei der Begleitung der Gefangenen, als auch bei den Strafvollstreckungsgerichten herrsche Personalmangel, beklagt Messiaen. Es sind genau diese Gerichte, die ab jetzt auf Antrag und nach Absitzen einer Mindeststrafe über die weitere Vollstreckung der Strafen entscheiden müssen.
Die notwendigen Mittel seien einfach nicht vorhanden. So steuere man direkt auf eine Katastrophe zu. Eine Einschätzung, die auch diverse andere Vertreter des Justiz- und Gefängniswesens teilen.
Boris Schmidt