Der 20. März dieses Jahres, ein schwarzer Tag für eine ganze Region. Es ist 5 Uhr morgens. Rund 200 Menschen haben sich in Strépy-Bracquegnies bei La Louvière versammelt, um den örtlichen Karnevalsumzug vorzubereiten.
Es gehört zur Tradition, dass die "Gilles" - wie man die Männer in ihren Schellenkostümen nennt - in den frühen Morgenstunden mit ihren Aktivitäten beginnen.
An diesem Morgen des 20. März 2022 kommt es aber zur Tragödie. Ein Auto fährt mit hoher Geschwindigkeit in die Karnevalsgruppe. Sechs Menschen verlieren ihr Leben, knapp 40 weitere werden verletzt, zehn von ihnen schwer.
Kein terroristischer Hintergrund
In dem Wagen sitzen zwei junge Männer. Der Fahrer wird festgenommen. Gegen ihn wird Haftbefehl erlassen. Seither sitzt er in Untersuchungshaft.
Ein möglicher terroristischer Hintergrund konnte schnell ausgeschlossen werden. Als Ursache für das Drama galt zunächst lediglich ein leicht überhöhter Blutalkoholgehalt und zu hohe Geschwindigkeit.
Vorläufige Bewertung kurz nach der Tat
Entsprechend wurden dem Fahrer nur fahrlässige Tötung bzw. fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge zur Last gelegt. Schon damals hatte der zuständige Staatsanwalt Damien Verheyen aber klar gemacht, dass das eine vorläufige Tatbewertung sei.
Die Ermittlungen stünden noch am Anfang und die vorliegenden Erkenntnisse seien noch sehr lückenhaft. Sollten bei den gerichtlichen Untersuchungen neue Beweise oder Indizien ans Licht kommen, dann könnte jederzeit eine Neubewertung vorgenommen werden, sagte Damien Verheyen am 22. März.
Genau das ist jetzt offensichtlich auch passiert: Am vergangenen Freitag stand ein Haftprüfungstermin an. Das Gericht entschied, dass der Todesfahrer, ein gewisser Paolo F., weiter im Gefängnis bleiben muss.
Mordverdacht
Die Ratskammer von Tournai gab bei der Gelegenheit aber auch noch dem Antrag der Staatsanwaltschaft statt, die schon zum wiederholten Male um eine Ausweitung des Ermittlungsverfahrens ersucht hatte. Staatsanwalt Verheyen sagte in der RTBF: In mindestens einem Zusammenhang hat die Ratskammer entschieden, dass die Staatsanwaltschaft statt wegen fahrlässiger Tötung nun auch wegen Mordverdachts ermitteln sollte.
Viel konkreter will der Staatsanwalt nicht werden. "Jede Phase des Unfallhergangs werde analysiert. Im Rahmen der Beweisaufnahme kämen immer noch neue Bilder von Überwachungskameras oder Handys ans Licht, würden Zeugen verhört und nochmal verhört, und auf dieser Grundlage sei diese Neubewertung vorgenommen worden."
Bestimmter Moment
Viel klarer ist das immer noch nicht. Bis Damien Verheyen dann doch zumindest einen Zipfel des Schleiers lüftet: Die Ermittler und das Gericht seien zu dem Schluss gekommen, "dass der Todesfahrer zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt während des Unfalls eine Entscheidung getroffen hat, von der er wusste, dass sie den Tod eines der Opfer zur Folge haben könnte und dass er diese Konsequenz auch in Kauf genommen hat."
Das ist eine sehr verklausulierte Formulierung für "Absicht", "Vorsatz". In den Augen der Ermittler gibt es demnach offensichtlich einen bestimmten Moment, in dem sich der Fahrer dessen bewusst war, dass er einen Menschen töten könnte.
Dieser "bestimmte Moment": Gemeint ist vielleicht die Tatsache, dass der Fahrer laut Zeugenaussagen plötzlich nochmal Gas gegeben haben soll.
Strafmaß
Totschlag oder doch Mord? Für Paolo F. ändert diese Neubewertung einiges. Zunächst einmal wird eine mögliche Entlassung aus der Untersuchungshaft weiter erschwert.
Viel wichtiger noch, sagt Damien Verheyen: Bei einer Anklage wegen Mordes droht dem Fahrer ein Prozess vor einem Schwurgericht - mit einem ganz anderen Strafmaß von bis zu 30 Jahren Haft.
Roger Pint