"Nein, das passiert nicht nur in Katar", zitiert die Zeitung Het Nieuwsblad einen Gewerkschafter. Und tatsächlich erinnert diese Geschichte doch stark an die Berichte von krasser Ausbeutung von Arbeitsmigranten beim Bau der WM-Stadien.
Nicht Katar, sondern Antwerpen. Im Hafengebiet baut der Chemiekonzern Borealis gerade eine neue Fabrik. Vor einigen Wochen hatten sich acht philippinische Arbeiter bei ihrer Botschaft über die dortigen Arbeits- und Lebensbedingungen beschwert. Die Botschaft leitete die Klage weiter an die Menschenrechtsorganisation Payoké, die sich vor allem um Opfer von Menschenhandel kümmert.
Leben unter erbärmlichen Bedingungen
Die Helfer bekamen von den Arbeitern eine regelrechte Horrorgeschichte zu hören: Die Männer lebten unter erbärmlichen Bedingungen. Die Wohnung entsprach in keiner Weise den gesetzlichen Normen, sagte Klaas Vanhoutte von Payoké in der VRT. Dann gab es doch Auffälligkeiten in Bezug auf die Aufenthalts- bzw. die Arbeitsgenehmigung. Und dann war da noch der Lohn: 500 bis 600 Euro pro Monat, bei einer Sechstagewoche, was natürlich nichts ist für belgische Verhältnisse.
Die Organisation Payoké wandte sich an das zuständige Arbeitsgericht. Das Arbeitsauditorat, wie hier die Staatsanwaltschaft heißt, leitete Ermittlungen ein. Und bei der Befragung der Arbeiter habe sich schnell gezeigt, dass sie nicht alleine waren und es noch andere Leute gab, die in derselben Situation waren, sagte Arbeitsauditor Bart Wens in der VRT. Und so habe man die ganze Gruppe entdeckt.
In einem verlotterten Appartment im Antwerpener Stadtteil Deurne stieß man auf insgesamt 55 Arbeiter. Die Menschen kommen von den Philippinen und auch aus Bangladesch. Und es war offensichtlich, dass sie sich in einer schlimmen Situation befanden, sagt Klaas Vanhoutte von Payoké. Entsprechend froh waren sie, dass man sie aus ihrer misslichen Lage herausgeholt hat.
55 Opfer
Die Ermittler gehen davon aus, dass die 55 Männer Opfer von Menschenhändlern geworden sind, dass sie sich ihre Situation jedenfalls nicht ausgesucht haben. Sie arbeiteten mal als Rohrinstallateure, mal als Schweißer. Und sie verfügten über ein Arbeitsvisum aus einem anderen europäischen Land, sagte Arbeitsauditor Bart Wens.
Genau gesagt war es eine abgelaufene Arbeitserlaubnis aus Ungarn. Allein dieser Umstand mag darauf hindeuten, dass sich dahinter eine wohl organisierte Struktur verbirgt.
"So einen Fall haben wir noch nie gesehen", heißt es bei Menschenrechtsorganisationen, die sich um Opfer von Menschenhandel kümmern. Erstmal ist die Gruppe der ausgebeuteten Menschen außergewöhnlich groß, sagte Sarah De Hovre von der Vereinigung PAG-ASA in der RTBF. Dann muss man sagen, dass das Ganze sehr gut organisiert ist, mit Querverbindungen in verschiedene europäische Länder.
Frage nach der Spinne im Netz
Stellt sich natürlich die Frage: Wer war die Spinne im Netz? Wer hat das Ganze organisiert? Wer hat die Menschen nach Europa geholt und auf so schamlose Weise ausgebeutet?
Der Chemiekonzern Borealis, also der Bauherr, gab sich am Dienstag ebenso überrascht wie schockiert. Man verlange Transparenz und Aufklärung von seinem Subunternehmer, ließ das Unternehmen verlauten. Besagter Subunternehmer, die Firma IREM, ging seinerseits auf Tauchstation.
Wie die Zeitungen Gazet van Antwerpen und Het Nieuwsblad berichten, kann das aber für Borealis nichts Neues sein. Schon im Mai gab es demnach eine Klage wegen der Ausbeutung von - damals ukrainischen - Arbeitern auf derselben Baustelle. Und die Personalabteilung von Borealis sei über die Klage auch in Kenntnis gesetzt worden. Dass auf der Baustelle nicht alles mit rechten Dingen zuging, das wusste der Chemiekonzern also schon längst.
Wie dem auch sei: Die Hintermänner des Menschenhandels aufzuspüren, das dürfte sich als unmöglich erweisen, das wissen auch die Ermittler. Jeder weist mit dem Finger auf andere. Der Bauherr auf den Unternehmer, und der Unternehmer auf den Subunternehmer. Und umgekehrt.
Immerhin kündigte Justizminister Van Quickenborne eine Aufstockung der zuständigen Kontrolldienste an. So könnten solche Vergehen besser aufgespürt und auch schneller geahndet werden.
Roger Pint