In Belgien sind im Lauf der Geschichte Unmengen von Dokumenten angehäuft worden. Die meisten wohl eher trivialer Natur, andere hingegen zumindest potenziell doch eher brisant. Man denke nur an die Arbeit der Staatssicherheit und anderer Geheimdienste, der Polizei und Sicherheitsbehörden, der Armee, des Außen- und des Innenministeriums und so weiter.
Aber im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gibt es in Belgien keine systematische Deklassifizierung von Dokumenten, die vorher als "vertraulich", "geheim" oder sogar "sehr geheim" eingestuft worden waren. Das sind die drei Stufen, die es aktuell für klassifizierte Dokumente hierzulande gibt. Wird ein so klassifiziertes Dokument nicht explizit deklassifiziert, bleibt es auf ewig unter Verschluss.
Für die Klassifizierung gab beziehungsweise gibt es sicher auch gute Gründe, räumte Stefaan Van Hecke bei Radio Eén ein. Er ist Kammerabgeordneter für die flämischen Grünen. Die aktuelle Praxis erschwere aber die transparente und gründliche historische, wissenschaftliche oder auch journalistische Aufarbeitung geschichtlich oder anderweitig relevanter Ereignisse. Ein ganz aktuelles Beispiel: Der parlamentarische Sonderausschuss zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Belgiens ist bei seinen Recherchen auf diverse verschlossene und damit unzugängliche Archive gestoßen. Um sich eine Vorstellung zu machen: Allein im Außenministerium sollen zehn Kilometer Akten zur Kolonialzeit stehen. Die Hälfte soll bereits von Schimmel befallen sein. Und das ist größentechnisch kein Einzelfall. Bei der Landesverteidigung soll es ebenfalls Millionen klassifizierter Dokumente geben. Um nur zwei Beispiele zu nennen.
Nach einer gewissen Zeit bestehe die Notwendigkeit zur Geheimhaltung dieser Dokumente aber nicht mehr. Und dann müsse die betreffende Information auch publik gemacht werden können. Aktuell würden von Fall zu Fall entschieden, ob klassifizierte Dokumente deklassifiziert und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden dürften. Die Föderalregierung wolle aber, dass das, wie in anderen Ländern, strukturell geschehe.
Deswegen haben die sieben Parteien der Mehrheit gemeinsam, unter Federführung der Grünen, einen neuen Gesetzesentwurf erarbeitet, den Van Hecke in die Kammer miteingebracht hat. Der Entwurf berücksichtigt auch die Einwände und Sorgen der verschiedenen Dienste und Behörden, die mit der Wahrung der Sicherheit des Staates betraut sind. Er soll noch diesen Monat im Kammerausschuss für Inneres diskutiert werden.
Konkret sieht der neue Gesetzesentwurf im Prinzip Verjährungsfristen vor, nach denen die zuständige Stelle die Klassifizierung eines Dokuments überprüfen muss. Für "vertrauliche" Dossiers sollen das 20 Jahre sein, für "geheime" 30 Jahre und für "sehr geheime" 50 Jahre. Nach Ablauf dieser Fristen muss also entschieden werden, ob das Dokument freigegeben wird – oder nicht. Ist Letzteres der Fall, dann muss die zuständige Stelle das aber auch ausreichend und sachlich begründen. Eine Verlängerung der Klassifizierung soll auch nur für jeweils zehn Jahre möglich sein, danach muss erneut geprüft und gegebenenfalls eben auch begründet werden. Dass dies korrekt geschieht, soll von Kontrollorganen überwacht werden, etwa dem für die Geheim- und Sicherheitsdienste zuständigen Komitee R.
Verlängerungen sollen aber auch nicht unbegrenzt aneinandergereiht werden dürfen. Das neue Gesetz sehe vor, dass nach maximal 100 Jahren Schluss sein müsse. Allerspätestens dann müsse jedes vorher klassifizierte Dokument öffentlich gemacht werden.
Das bedeutet im Übrigen auch, dass alle Dossiers, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes älter als 100 Jahre sind, eben nicht mehr unter Verschluss gehalten werden dürften – ohne Wenn und Aber. Das wären also in der Praxis, wenn das Parlament noch dieses Jahr grünes Licht für das Gesetz gibt, alle Dokumente, die vor 1922 erstellt worden sind.
Die Dienste sollen auch alle ihre jüngeren klassifizierten Dokumente überprüfen mit Hinblick auf eine mögliche Freigabe. Das sei natürlich ein ziemlich arbeitsintensiver Auftrag an die zuständigen Stellen, warnte Van Hecke, der neben entsprechenden personellen Ressourcen vor allem auch Zeit in Anspruch nehmen werde. Damit dennoch gewährleistet werde, dass dieser Auftrag auch tatsächlich ausgeführt werde, sei vorgesehen, dass dem Parlament jährlich Bericht über Vorgehensweisen und Fortschritte erstattet werden müsse.
Das Ziel des Gesetzes sei eben auch, dass Informationen, die "nur" 50, 60 oder 70 Jahre alt seien, systematisch überprüft und nach Möglichkeit in verantwortungsvoller Weise freigegeben werden könnten, so der Groen-Abgeordnete. Also beispielsweise bislang klassifizierte Informationen über die Zeit des Zweiten Weltkriegs, den Kalten Krieg, über die Zeit vor und nach der Unabhängigkeit der ehemaligen belgischen Kolonien, Dossiers über extremistische Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre, über die sogenannten "Bleiernen Jahre", die Killerbande von Brabant und vieles mehr.
Boris Schmidt