Nein, unterschätzt haben wir Russland nicht, sagt der Chef der belgischen Armee, Michel Hofman, in der RTBF. Und auch wenn der Vormarsch der russischen Truppen langsamer voranschreitet als erwartet, Russland habe immer noch ausreichend Reserven, um in den kommenden Tagen zuzuschlagen.
Nach sieben Tagen Krieg in der Ukraine ist für Hofman der Plan der russischen Armee weiterhin deutlich zu erkennen. Sie will so schnell wie möglich die Hauptstadt Kiew, die zweitgrößte Stadt Charkiw und die wichtigsten Häfen Mariupol und Odessa einnehmen.
Die größte Gefahr gehe derzeit von russischen Marschflugkörpern aus, die ihre Ziele über lange Strecken ansteuern können. Sie könnten viele Opfer sowohl in der Zivilbevölkerung als auch unter den ukrainischen Soldaten verursachen. Auch eine atomare Bedrohung müsse man immer wieder in Betracht ziehen. Wenn Russland eine solche ins Spiel bringt, dann nicht ohne Grund, so Hofman.
Am Dienstag hatte die russische Armee die Einwohner von Kiew aufgefordert, ihre Stadt zu verlassen und angekündigt, mit Präzisionswaffen anzugreifen. Und auch wenn die Menschen in Kiew entschlossen Widerstand leisten: Für den belgischen Armeechef ist die russische Feuerkraft so groß, dass man mit einem Angriff rechnen muss.
Hofman geht davon aus, dass die Invasion noch einige Tage oder Wochen dauern wird. Ein Waffenstillstand ist nicht in Sicht, denn Russland ist von seiner militärischen Übermacht überzeugt. Hofman schätzt, dass sie sieben mal so groß wie die der ukrainischen Armee ist.
Außerdem geht er davon aus, dass die russischen Angriffe schon bald verstärkt werden. Denn Russland braucht einen schnellen Sieg. Je länger es dauert, umso mehr wird Russland isoliert sein, wahrscheinlich auf dem Feld, aber sicher international und politisch.
Deutlich wird aber auch: Dass der russische Vormarsch ins Stocken geraten ist, hat verschiedene Gründe. Seiner Ansicht nach hat Russland drei Dinge unterschätzt. Erstens die Logistik einer solchen Militäraktion, zweitens den Widerstand der Ukraine und drittens den internationalen Zusammenhalt.
Die langfristige Strategie Russlands sei klar. Ein Regimewechsel in Kiew, um so neben Belarus einen weiteren Vasallenstaat zu haben, der die russische Einflusszone vergrößert. Und vielleicht folgen ja noch andere Staaten, analysiert Hofman.
Und da gibt es ja auch noch die Cyberfront. Alle belgischen Armeeangehörigen haben schon vor ein paar Wochen eine E-Mail erhalten, in der sie auf die Gefahr von Hackerangriffen auf die Computernetzwerke gewarnt wurden. Für Michel Hofman sind Cyberattacken nicht nur eine Gefahr für die Armee, sondern alle sollen wachsam sein.
Das gilt auch für den Zeitpunkt, wenn sich die 300 belgischen Soldaten auf den Weg nach Rumänien machen, um dort an einer Mission der Schnellen Nato-Eingreiftruppe teilzunehmen.
In Zeiten von Information und Desinformation hören die russischen Geheimdienste natürlich mit, so Hofman. Deshalb sind wir, was solche Informationen angeht, sehr diskret.
Volker Krings