Es ist genau das Gegenteil von dem, was Olivier Hissette mit seiner Arbeit erreichen möchte. Der stellvertretende Leiter des Sozialhilfevereins Relais Social Urbain Namurois nimmt deshalb auch kein Blatt vor den Mund. Der Obdachlose, der vor zwei Nächten in Namur erfroren ist, das sei eine Niederlage für ihn und seine Mitstreiter, sagt Hissette in der RTBF. Ein Mensch auf der Straße, der stirbt, sei ein Misserfolg. Und das sei schwer zu ertragen.
Aber, so fügt Hissette hinzu: So sei das eben manchmal bei seiner Arbeit. Manchmal habe man Erfolg mit den Bemühungen, Obdachlosen bei Kälte eine warme Unterkunft zum Schlafen anzubieten. Manchmal klappe das aber auch nicht. Das müsse man sich zwischendurch immer wieder eingestehen. Auch, wenn das schwer falle.
Der Obdachlose, der in der Nacht von Montag auf Dienstag in Namur erfroren ist, war kein Unbekannter. Schon vor rund einem Jahr hatte die RTBF mit ihm gesprochen. Der Mann hieß Vincent, war 60 Jahre alt und lebte seit etwa acht Jahren auf der Straße. Im Interview vor einem Jahr begründete er auch, warum er das Übernachten in Unterkünften für Obdachlose ablehnte.
Das habe er nämlich am Anfang durchaus versucht, aber, so erzählte er es vor einem Jahr: "In der ersten Nacht, in der ich in einer Übernachtungsmöglichkeit für Obdachlose gewesen bin, hat man mir mein Portemonnaie gestohlen. Am zweiten Tag, an dem ich dort gewesen bin, hat man mir mein Telefon gestohlen. Daraufhin habe ich mir gesagt: Das reicht, Vincent. Jetzt wirst du dir ein eigenes Plätzchen suchen, wo du schlafen kannst".
Bewusst war Vincent also auf der Straße geblieben, auch bei eisiger Kälte. Aber steht in so einem Fall nicht die öffentliche Hand in der Pflicht? Müssen Bürger nicht vor sich selbst geschützt werden?
Vor vier Jahren waren Obdachlose in Namur bei noch größerer Kälte als jetzt dazu gezwungen worden, nachts in Unterkünften zu übernachten. Heute lehnt der Vorsitzende des öffentlichen Sozialzentrums CPAS in Namur, Philippe Noël, ein solches Vorgehen ab. "Man kann die Menschen nicht zwingen", sagt er. "Das ist etwas, was sie sehr bewusst für sich entschieden haben, die Freiheit jeder einzelnen Person. Das respektieren wir. Trotzdem bieten wir ihnen natürlich immer wieder Hilfe an, geben ihnen Decken und warmes Essen, wenn sie für sich entschieden haben, nicht in die bereitgestellten Unterkünfte für Obdachlose zu gehen."
Diese Hilfe hat für Vincent nicht gereicht. Die Kälte war zu groß. Das ergab die Obduktion seiner Leiche. Auch Fremdeinwirken sei auszuschließen, so die Staatsanwaltschaft. Die Aufnahmen von Überwachungskameras in der Nähe des Schlafplatzes von Vincent hätten kein Fremdeinwirken gezeigt.
Wo sind die Grenzen der öffentlichen Fürsorge, wo beginnt die persönliche Freiheit des Einzelnen? Diese Fragen bleiben offen, über den Tod des Obdachlosen hinaus. Wobei es vielleicht trösten mag, dass Vincent einen Tod erlebt hat, den er sich in gewisser Weise gewünscht hatte. Im Interview vor einem Jahr sagte er in Hinblick auf sein Leben auf der Straße: "Es geht nicht darum, dass ich mich gezielt umbringen will, das ist es nicht. Aber ich möchte ganz in Ruhe sterben können". Das Ausharren auf der Straße auch bei großer Kälte hat ihm das ermöglicht.
Kay Wagner