Die Vorsitzende des Expertengremiums GEMS, das die Regierung berät, war gewohnt deutlich: Am Sonntag warnte die Infektiologin Erika Vlieghe davor, die Maßnahmen zu schnell und zu umfangreich zu lockern – auch insbesondere hinsichtlich der Pflicht zum Tragen von Mundschutzmasken.
Das ist im Kern auch die Aussage eines Berichtes der GEMS an die politisch Verantwortlichen. Angesichts steigender Ansteckungen und Krankenhausaufnahmen sei für den Herbst Vorsicht geboten. Außerdem sollten die Regierungen des Landes einen Notfallplan erstellen, falls sich die Situation rapide verschlechtern sollte. Vom Corona-Kommissar Pedro Facon war sinngemäß ähnliches zu hören.
Diese relativ einhellige Meinung der einschlägigen Gesundheitsexperten hat auch der bekannte Sciensano-Virologe Steven Van Gucht bekräftigt. Zu seinen Aufgaben gehört ja unter anderem, im Rahmen der Pressekonferenzen des Nationalen Krisenzentrums regelmäßig über die Entwicklung der Corona-Zahlen Bericht zu erstatten.
Kein gutes Timing
Aus wissenschaftlicher Sicht fänden sie alle es noch etwas zu früh, um die allgemeine Mundschutzmaskenpflicht abzuschaffen, so Van Gucht am Freitagmorgen bei Radio Eén. Auch seiner Meinung nach stehen Europa und auch Belgien noch sehr schwierige Monate bevor, nämlich der Herbst und der Winter. Deswegen finde er es kein gutes Timing, jetzt alle Bremsen zu lösen. So, wie es etwa Dänemark nun getan hat. Das skandinavische Land zählt vielen, gerade in Flandern, ja als Vorbild, dem man auch hierzulande nacheifern sollte.
Die Modelle, die man in Belgien und auch in anderen Ländern entwickelt habe, um zu simulieren, wie es mit der Epidemie weitergehen könnte, sagten da noch immer das Gleiche: Die epidemiologische Situation habe noch immer das Potenzial für eine starke vierte Welle – mit einer schweren Belastung für die Krankenhäuser; um nicht zu sagen einer möglichen Überlastung des Gesundheitssystems.
Hierbei seien in erster Linie ungeimpfte Menschen in Gefahr, auch wenn es sicherlich auch den einen oder anderen Geimpften treffen werde. Bekanntermaßen schützt kein Impfstoff wirklich zu hundert Prozent, auch wenn sie die Gefahr einer schwerwiegenden Erkrankung enorm verringern.
Milde Schutzmaßregeln
Aber unter den Geimpften gebe es dennoch auch die Risikopatienten zum Beispiel in den Alten- und Pflegeheimen, so der Virologe. Und hier wisse man, dass sie besonders fragil seien, trotz vollständiger Impfung. Das hätten auch Ausbrüche im Sommer mit mehreren Todesopfern gezeigt. Wenn das Virus es schaffe, in solche Einrichtungen einzudringen, sei es oft sehr schwierig aufzuhalten – und das könne dramatische Folgen haben. Deswegen seien auch hier zusätzliche Schutzmaßnahmen sicher nicht verkehrt, um den Unsicherheitsfaktor zu reduzieren. Da zähle für ihn etwa auch das Covid-Safe-Ticket für Besucher dazu.
Van Gucht erinnert auch daran, dass es in Belgien im vergangenen September genau die gleichen Diskussionen über weitreichende Lockerungen gegeben habe wie jetzt, bei ähnlichen Fallzahlen. Und das habe nicht gut geendet. Jetzt befinde sich das Land allerdings – im Gegensatz zu damals – in einer Phase, in der sehr viele Menschen gegen das Coronavirus geimpft seien.
Die Modelle besagten, dass das bedeute, dass auftretende neue Viruswellen nun mit relativen milden Maßnahmen unterdrückt werden könnten. Heute reiche demnach etwa eine Reduzierung der Hochrisikokontakte um 20 bis 30 Prozent, damit die Situation nicht entgleise. Für den gleichen Effekt habe man vor der Impfkampagne eine Reduzierung von 60 bis 70 Prozent gebraucht – plus Lockdown.
Zu den milden Maßnahmen, um die Corona-Zahlen unter Kontrolle zu halten, könnten aber auch noch andere zählen, eben zum Beispiel auch Mundschutzmasken. Aber auch eine Anwendung des Covid-Safe-Tickets oder wieder mehr Arbeiten von zu Hause aus. Milde Schutzmaßregeln, die uns außerdem auch relativ wenig kosten, könnten Belgien so auf sichere Weise durch die anstehende schwierige Zeit lotsen, ist der Virologe überzeugt.
Boris Schmidt