Vergleicht man die Zahlen aus dem Vor-Corona-Jahr 2019 mit dem darauffolgenden Jahr, dann ist in Belgien ein Rückgang von sechs Prozent bei den Krebsdiagnosen zu verzeichnen gewesen. Das entspricht 4.000 Diagnosen weniger.
Weil es aber keinen logischen Grund gibt, um anzunehmen, dass es weniger häufig zu Krebs in der Bevölkerung kommt, ist das eine schlechte Entwicklung. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu sehen, dass gerade bei dieser heimtückischen Krankheit gilt: Je früher sie erkannt und behandelt wird, desto größer die Chancen auf einen milderen Krankheitsverlauf und Heilung. Außerdem sind die erforderlichen Behandlungsmethoden auch umso schonender für den Patienten, je früher damit begonnen werden kann.
Bei einer genaueren Analyse der Daten fällt auf, dass der Rückgang der Krebsdiagnosen sich vor allem auf den Beginn der Coronakrise konzentriert, also auf die erste Welle um Mitte April herum. Während des ersten Corona-Peaks sei der klassische Betrieb des Gesundheitswesens quasi komplett zum Erliegen gekommen, erklärte der Onkologe Marc Peeters vom Universitätskrankenhaus Antwerpen in der VRT. Dadurch sei es sehr schwierig geworden, bestimmte Hausärzte überhaupt noch zu erreichen. Und die Krankenhäuser hätten sich in dieser Periode vor allem auf die Versorgung von Covid-Patienten ausgerichtet. Ein weiterer Grund sei gewesen, dass Menschen mit Beschwerden lange gezögert hätten, bevor sie nach medizinischer Hilfe gesucht hätten.
Nach dieser "Delle" in der Kurve ging es wieder aufwärts mit der Zahl der Diagnosen, bis gegen Anfang Juni 2020 wieder mehr oder minder normale - also zu erwartende - Werte erreicht worden sind. Dafür gibt es auch mehrere Gründe: Zum einen haben verschiedene Stellen, Einrichtungen und Ärzte Alarm geschlagen und die darauf folgende Sensibilisierungskampagne hat dann dazu geführt, dass wieder mehr Menschen mit Beschwerden zum Arzt gegangen sind. Hinzu kam aber auch, dass im gesamten Gesundheitswesen nach dem ersten Corona-Schock wieder eine gewisse Normalität und Routine einkehrten. Beides zusammen erklärt für Peeters großteils diese Aufholbewegung. Letzteres erklärt für ihn auch, warum ein erneuter Rückgang während der zweiten Welle größtenteils ausgeblieben ist. Die Spezialisten und Krankenhäuser hatten sich bis dahin so weit reorganisiert und koordiniert, um auch unter Pandemiebedingungen ihren Betrieb prinzipiell aufrechterhalten zu können.
Lediglich bei den Über-80-Jährigen kam es auch in der zweiten Welle erneut zu einem deutlichen Rückgang der Krebsdiagnosen. Insgesamt ist es auch diese Altersgruppe, die den stärksten Rückgang über das gesamte Jahr zu verzeichnen hatte, nämlich rund zehn Prozent. Bei jüngeren Altersgruppen war der beobachtete Rückgang deutlich geringer. Auch dafür gibt es eine Erklärung: So sei diese Altersgruppe gerade zu Beginn, aber auch noch später oft besonders stark eingeschränkt gewesen. Komplette Alten- und Pflegeheime hätten ja in den Lockdown gehen müssen wegen der besonders großen Gefahr. Das Risiko, an Corona zu sterben sei also viel größer gewesen, als die Gefahr durch Krebs zu diesem Zeitpunkt.
Für Nancy Van Damme von der Stiftung Krebsregister gibt es aber noch einen weiteren möglichen Grund: Durch die pandemiebedingte Übersterblichkeit gerade bei dieser Altersgruppe seien Menschen vielleicht öfter gestorben, bevor ein Krebs überhaupt habe diagnostiziert werden können.
Unterschiede gibt es aber nicht beim Alter der Patienten, sondern auch bei den Krebsarten: Der größte Rückgang 2020 ist bei Tumoren im Kopf- und Halsbereich festgestellt worden. Die körperlichen Beschwerden bei Mund-, Rachen- und Kehlkopfkrebs ähnelten den Covidsymptomen, so Nancy Van Damme in der VRT. Deswegen seien Menschen mit solchen Symptomen wahrscheinlich in dieser Zeit weniger häufig zum Arzt gegangen. Der Onkologe Marc Peeters weist auch darauf hin, dass es beispielsweise bei Lungen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs relativ schnell zu ernsteren Beschwerden kommt. Dadurch suchen die Betroffenen nicht nur schneller medizinische Hilfe, sondern bekommen diese auch schneller. Das sei beispielsweise bei möglichen Hauttumoren nicht so ausgeprägt, hier werde eine Untersuchung deshalb viel eher hinausgezögert.
Boris Schmidt