Bis zwei Uhr Donnerstagnacht haben die Staats- und Regierungschefs debattiert - und dabei sind dem Vernehmen nach wohl ziemlich die Fetzen geflogen. Das hat auch Premierminister Alexander De Croo (Open VLD) nach der Sitzung noch in der Nacht gegenüber der VRT bestätigt. Die Auseinandersetzungen seien viel stärker gewesen als das, was man bisher gewohnt gewesen sei. So eine Konfrontation habe es noch nie gegeben.
Es geht natürlich, es kann ja gar nicht anders sein, um eine Konfrontation mit dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán. Dass Ungarn immer wieder querschießt, Mätzchen macht, Beschlüsse blockiert, europäische Grundwerte mit Füßen tritt und generell überall gerne zündelt, das ist seit Jahren so. Deswegen ist es auf den ersten Blick vielleicht doch etwas überraschend, dass der Kampf um das neue ungarische Gesetz gegen eine angebliche Förderung von Homosexualität, abweichender Geschlechtsidentität und Geschlechtsumwandlung bei Minderjährigen jetzt mit solcher Vehemenz geführt wird. Andererseits ist es bei verschiedenen EU-Spitzenpolitikern offenbar gerade das Verhalten Ungarns in der Vergangenheit, das dazu geführt hat, dass das neue Gesetz der berüchtigte Tropfen zu viel war.
Bis hier und nicht weiter
Für Orbán galt zwar ohnehin mit Blick auf seine Wählerschaft schon immer das Prinzip "Viel Feind', viel Ehr'" und wenn der Feind von außen kommt, umso besser. Aber dieses Mal hat er sich offenbar doch eine ganze Menge Feind auf einmal eingebrockt. Viel mehr als die 17 Länder, über die man ursprünglich gesprochen habe, seien es am Ende gewesen, erklärte Premier De Croo. Quasi einstimmig habe der Europäische Rat gesagt: Bis hier und nicht weiter. Dieses ungarische Gesetz werde man nicht hinnehmen.
"Quasi" einstimmig bedeutet, dass Orbán nur noch Unterstützung vom bekanntermaßen ebenfalls auf EU-Ebene oft sehr problematischen Polen bekommen hat. Orbáns Verbündeter Slowenien beschränkte sich darauf, Ungarn nicht explizit zu kritisieren.
Emotionale Sitzung
Es sei eine sehr emotionale Sitzung gewesen, beschrieb De Croo die Atmosphäre, und am Ende sei die Unterstützung für ein Vorgehen gegen Orbáns Gesetz viel breiter ausgefallen, als er erwartet hatte. Belgien ist ja federführend gewesen bei der Initiative, die die EU-Kommission auffordert, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um die Einhaltung der Menschenrechte zu garantieren.
Wie emotional die Sitzung gewesen sein muss, das kann man an diversen Aussagen nachvollziehen, die nach außen gedrungen sind. De Croo, der übrigens mit Regenbogenflagge am Anzug in die Sitzung ging, soll den Ungarn an den Kopf geworfen haben, dass Homosexualität keine Wahl sei, Homophobie hingegen schon. Außerdem bezeichnete er das Gesetz als "rückständig".
Sein niederländischer Amtskollege Mark Rutte wiederholte seine Frage, ob Ungarn es denn nicht den Briten nachtun und die Europäische Union verlassen wolle. Wenn Orbán das durchziehe, und so schamlos werde er sein, so Rutte, dann habe Ungarn nichts mehr in der Union verloren.
Für Schweden kam von Premier Stefan Löfven die Ansage, dass es die dortigen Steuerzahler sehr satt hätten, für Länder zu zahlen, die sich wie Ungarn verhielten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron rückte Orbán in die Nähe Putins, während die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel das Gesetz als schlicht "inakzeptabel" verurteilte.
Die Verteidigung Ungarns sei auch sehr schwach gewesen, so De Croo. Die Europäische Kommission werde jetzt an die Arbeit gehen, so der Premier weiter. Sprich die Kommission werde eine Prozedur gegen Ungarn einleiten, um das Gesetz annullieren zu lassen. Und damit nicht genug: Auch Ungarns Corona-Wiederaufbauplan, für den Orbán ja Geld aus dem europäischen Hilfsfonds will, soll von der Kommission "Zeile für Zeile" genau durchleuchtet werden, um zu verhindern, dass dort Investitionsprojekte drin seien, die unzulässig seien.
Viktor Orbán seinerseits - wie wohl nicht anders zu erwarten war - gibt sich weiter betont provozierend unbeeindruckt und kämpferisch.
Boris Schmidt