Zusammen mit der US-amerikanischen und der norwegischen Verfassung ist das belgische Grundgesetz das älteste, das noch in Kraft ist. Die Historikerin Maartje van der Laak brach vor einigen Monaten in der VRT eine Lanze für einen Text, auf den die meisten eigentlich nur aufmerksam werden, wenn mal wieder daran gewerkelt werden soll. Das passiert tatsächlich in regelmäßigen Abständen - das nennen wir dann oft eine "Staatsreform". Der "Rumpf" der Verfassung ist aber seit 190 Jahren unverändert.
Der 7. Februar 1831 müsste eigentlich in jedem Schulgeschichtsbuch golden eingerahmt sein. Am 7. Februar 1831 verabschiedete der sogenannte Nationale Kongress die belgische Verfassung. Es war nicht nur eine der ersten Verfassungen auf dem europäischen Kontinent, sondern auch ein für seine Zeit außerordentlich liberaler Text. Vier Grundfreiheiten waren darin verankert: Die Meinungs- beziehungsweise Pressefreiheit, die Bildungsfreiheit, die Religionsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Diese vier "kardinalen Freiheiten" wurden später sogar in Form von vier Frauenstatuen an der Kongresssäule in Brüssel verewigt. Die belgische Verfassung machte aus dem gerade erst gegründeten Staat die erste parlamentarische Monarchie Europas, sagt Historikerin Maartje van der Laak. Und sie bescherte den Belgier einen für die damalige Zeit fast beispiellosen Grundrechtekatalog. Die Signalwirkung der belgischen Verfassung war so groß, dass der Text sogar einigen Ländern als Vorbild diente für ihre jeweiligen Grundgesetze.
Das alles wäre ja eigentlich Grund genug, diesem Text einen Platz einzuräumen, der ihm gebührt. In anderen Ländern gibt es da deutlich mehr Geschichtsbewusstsein, manchmal sogar eine regelrechte Verfassungskultur, wie etwa in den USA, wo ganze Museen der Verfassung und ihren Autoren gewidmet sind. Aber, bekanntlich tun sich die Belgier schwer damit, ihre Errungenschaften an die große Glocke zu hängen. Schlimmer noch: Das Land ist eigentlich eher dafür bekannt, seine historischen Schätze verlottern zu lassen. In dieses Bild passte auch die Geschichte, die Mitte vergangenen Jahres plötzlich aufgepoppt war. "Das Original der belgischen Verfassung liegt verstaubt in einem Garderobenschrank", schrieb die Zeitung Het Laatste Nieuws. Das Blatt berief sich dabei unter anderem auf eben die Historikerin Maartje van der Laak. Diese Meldung war aber anscheinend für den einen oder anderen eher noch eine gute Neuigkeit. Denn, es ging auch das Gerücht um, die Urkunde sei 1883 bei einem Brand im Palast der Nation - im Parlamentsgebäude - zerstört worden.
Man hört offensichtlich viele Geschichten über den Verbleib des Originaltextes der belgischen Verfassung, konnte auch Kammerpräsidentin Eliane Tillieux in der RTBF nur feststellen. Also, sie könne nur sagen, was sie von den zuständigen Diensten erfahren habe. Demnach liege das Dokument in einem Panzerschrank im Parlamentsgebäude, und das schon seit geraumer Zeit. Von wegen Garderobenschrank. Das hatte seinerzeit auch schon der Generalsekretär der Kammer nachdrücklich und mit scharfen Worten dementiert. Das Original der belgischen Verfassung werde unter Einhaltung archivarischer Standards in einem feuerfesten Panzerschrank aufbewahrt.
Was allerdings nichts daran ändert, dass dieses historische Dokument weggesperrt ist, fernab aller interessierten Augen. "Und das ist schade. Wir müssen dieses Dokument wieder in das Bewusstsein der Menschen bringen", sagt Maartje van der Laak. "Und das gerade heute, da doch unsere Freiheiten zunehmend unter Druck geraten. Man denke an die islamistischen Anschläge, die Bedrohung durch Extremisten, und auch die Freiheitseinschränkungen im Zuge der Pandemie-Bekämpfung. Und in einem solchen Kontext würde unser Bewusstsein dafür vielleicht noch geschärft, wenn die Verfassung, die diese Freiheiten seit 190 zementiert, wieder präsenter wäre in unseren Köpfen."
Die Botschaft scheint jedenfalls angekommen zu sein. "Wir, das heißt Kammer und Senat, werden das Original der Verfassung ausstellen", versprach Kammerpräsidentin Eliane Tillieux in der RTBF. Zusammen mit anderen historisch wertvollen Dokumenten.
Roger Pint