Selten wohl war das Dilemma sichtbarer. Auf der einen Seite: Die Krankenhäuser, die dem Druck kaum noch standhalten können. Aktuell werden 941 Patienten auf den Intensivstationen des Landes behandelt. So viele waren es seit November nicht mehr. Entsprechend hätte man sich in den Kliniken wohl gewünscht, dass möglichst keine Maßnahmen gelockert würden.
Demgegenüber hat der Konzertierungsausschuss aber einen ganzen Lockerungs-Fahrplan vorgelegt. Die beiden ersten Stichdaten waren quasi schon in Stein gemeißelt. 19. April: Wiederöffnung der Schulen und 26. April, also eine Woche später: Wiederöffnung der körpernahen Dienstleistungsbetriebe und der nicht-unentbehrlichen Geschäfte. Aber dann: Wieder zwei Wochen später, am 8. Mai, sollen auch die Horeca-Terrassen wieder aufmachen dürfen.
Dieses Tempo bei den Lockerungen, das bereitet uns Sorgen, sagte in der VRT Margot Cloet, die Leiterin des größten Dachverbands von Pflegeeinrichtungen in Flandern. Es liegen immer noch viel zu viele Patienten auf den Intensivstationen. Wir sind schon jetzt dazu gezwungen, Behandlungen zu verschieben, selbst bei Krebs- oder Herzpatienten, und das wollen wir nicht. Also: ein gewaltiger Druck, der auf den Krankenhäusern lastet und der, wenn, dann nur sehr langsam abklingt...
Auf der anderen Seite hat aber auch die Ungeduld bei vielen Selbstständigen und Geschäftsleuten einen neuen Höhepunkt erreicht. Im Horeca-Sektor brodelt es. So mancher hätte wohl beim Ansehen der Pressekonferenz des Konzertierungsausschusses am liebsten den Fernseher aus dem Fenster geworfen. Bislang stand ja das Stichdatum 1. Mai im Raum. Denn sollten, nach dem ursprünglichen Zeitplan, Cafés und Restaurants wieder öffnen dürfen.
Aus dem 1. Mai ist jetzt der 8. Mai geworden. Und dann dürfen lediglich die Terrassen wieder aufgemacht werden. Die Innenräume dürfen erst wieder ab "Anfang Juni" für Kunden geöffnet werden. Beides ist zudem an Bedingungen geknüpft: Bis zum 8. Mai müssen 70 Prozent der Über-65-Jährigen geimpft sein, und es muss sich die Lage in den Krankenhäusern "nachhaltig verbessert" haben.
Zunächst einmal die Frage: Warum diese Verschiebung um eine Woche? Es ist kein Geheimnis, dass das ein Kompromiss war. Das Lager der Vorsichtigen um den föderalen Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke hätte lieber bis zum 15. Mai gewartet. Aber, selbst eine Woche gibt uns noch Zeit, unter Hochdruck weiter zu impfen, sagte Frank Vandenbroucke in der RTBF. "Eine Woche, das bedeutet, dass weitere 500.000 Menschen geimpft werden können".
"Impfen, impfen, impfen", das ist das, woran man sich jetzt festhält. Mit jedem Tag wird die Zahl derer, die schwer an Covid-19 erkranken können, kleiner. "Die Impfquote, das ist das Seil, an dem wir uns festhalten", so drückte es Premierminister Alexander De Croo in der VRT aus.
Aber natürlich wird sich auch die Lage auf den Intensivstationen verbessern müssen. Doch wie sehr muss sich die Lage in den Krankenhäusern verbessern, damit die erste Phase der Lockerungen im Horeca-Sektor in Kraft treten kann? De Croo wollte sich da nicht auf eine Zahl festnageln lassen. "Es muss klar sein, dass der Scheitelpunkt überschritten ist", sagte er lediglich.
Bis dahin werden aber die meisten Café- und Restaurantbetreiber gar nicht mehr zugehört haben. Erst mal nur die Terrassen, und dann auch noch eine Woche später, für diese Beschlüsse hat in der Branche kaum jemand Verständnis. Das geht so weit, dass einige Horeca-Betriebe insbesondere in Lüttich den Aufstand proben wollen. Sie sind fest entschlossen, doch am 1. Mai ihre Terrassen zu öffnen.
Offensichtlich können sie da auf passive Hilfe aus dem Rathaus setzen: Bürgermeister Willy Demeyer hat schon mehrmals angedeutet, dass er seine Polizei wohl nicht zur Räumung von Terrassen einsetzen würde. Ganz offen sagt er das freilich nicht: "Wir werden natürlich nicht die Augen verschließen", sagte er in der RTBF. Wir wollen nur die öffentliche Ordnung nicht in Gefahr bringen. Nach dem Motto also: "Wenn alle die Terrassen aufmachen, wie sollen wir das noch verhindern können"...
Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke hat "null Verständnis" für diese Haltung. "Bürgermeister sind doch schließlich dafür da, für die Einhaltung der Regeln zu sorgen", zischte Vandenbroucke in der RTBF. "Wenn man das nicht tut, dann mag das kurzfristig gut für die Sympathiewerte sein. Damit öffnet man aber zugleich die Tür zum Wilden Westen. Und das kann es doch nicht sein."
Roger Pint