Radio, Musik, Hörbuch, SMS, Sofortnachrichten, Multimedia, Navigation, Verkehrsmeldungen, Heizung, Klimaanlage und sogar die Scheibenwischer - wenn man alles aufzählen wollte, was man je nach Modell per Touchscreen bedienen kann, wäre man wohl eine ganze Weile beschäftigt. Eines haben aber alle diese netten Funktionen gemeinsam: Sie tragen dazu bei, dass Autofahrer immer abgelenkter sind, wie Benoît Godard, Sprecher des Instituts für Verkehrssicherheit Vias, in der RTBF erklärt.
Ablenkung kann schwere Folgen im Straßenverkehr haben. Auf zehn Prozent wird der Anteil der Unfälle geschätzt, die durch Ablenkung zumindest mitverschuldet werden. Konkret bedeutet das für Belgien rund 5.000 Unfälle, bei denen etwa 60 Todesopfer zu beklagen sind.
Wie dramatisch und wohl von den meisten unterschätzt die Ablenkung tatsächlich ist, belegt jetzt eine Studie aus Großbritannien. Dort hat das angesehene "Transport Research Laboratory" (TLR) mit speziellen Testfahrzeugen gemessen, wie stark sich die Benutzung von Touchscreens und Systemen wie Apple CarPlay und AndroidAuto auswirkt. Dafür wurden per Kamera die Augenbewegungen der Fahrer aufgezeichnet und gemessen, wie oft und wie lang sie beim Bedienen ihres Touchscreens nicht auf den Verkehr achteten. Daraus wurde berechnet, wie sehr sich die Reaktionszeit des Fahrers verlangsamt, etwa, wenn er plötzlich bremsen oder einem Hindernis ausweichen muss.
Die Ergebnisse kann man gar nicht anders als erschreckend bezeichnen. 53 bis 57 Prozent länger wurde die Reaktionszeit, wenn der Fahrer nebenher mit dem Touchscreen des Autos beschäftigt war. Das entspricht mehr als einer halben Sekunde. Eine halbe Sekunde. Das klingt erstmal nicht nach so viel. Aber eine halbe Sekunde auf der Autobahn macht 15 Meter aus - und 15 Meter können bei einem plötzlich auftauchenden Stauende den Unterschied ausmachen zwischen rechtzeitiger Bremsung und dem Crash.
Besonders frappierend: Sich nach zwei oder drei Gläsern Alkohol noch hinters Steuer zu setzen, das entspricht etwa 0,8 Promille, führt "nur" zu einer Verlängerung der Reaktionszeit um zwölf Prozent. Selbst der Konsum von Cannabis wirkt sich kaum ein Drittel so stark auf die Reaktionszeit aus, wie einen Touchscreen zu bedienen.
Weitere Erkenntnisse: Telefonieren per Freisprechanlage, die Bedienung des Computersystems per Stimme, Nachrichten tippen oder Telefonieren mit dem Handy am Ohr - das alles ist schlechter für die Reaktionszeit, als der Konsum von Drogen. Größter Übeltäter ist aber eindeutig der Touchscreen im Auto.
Ein paar weitere Zahlen: Das Verändern der Innentemperatur im Auto per Touchscreen lenkt den Fahrer doppelt so lange ab, wie das Einstellen über Knöpfe. Die Auswahl eines Radiosenders oder das Reinzoomen in eine Navi-Karte sogar acht Mal so lange.
Die Reaktionszeit ist übrigens nicht das Einzige, was leidet, wie Tom Brijs, Experte für Straßensicherheit und Professor an der Universität Hasselt, in der VRT erklärte. Wer zum Beispiel durch Touchscreens abgelenkt ist, dessen Fahrzeug schlingert oft viel stärker über die Fahrspur. Außerdem blicken die Fahrer seltener in die Spiegel und sind sich so ihrer Umgebung weniger bewusst.
Nun lässt sich Fortschritt bekanntermaßen nicht aufhalten. Touchscreens einfach zu verbieten, ist deshalb keine Option. Bleibt also die Frage, wie ihre Bedienung zumindest sicherer gemacht werden kann. Das Ziel ist dabei klar: Die Interaktion mit dem Touchscreen muss auf ein Mindestmaß begrenzt werden, so Tom Brijs.
Dafür gibt es prinzipiell gesehen zwei Möglichkeiten: Die Systeme müssen besser werden, die eine Bedienung per Stimme erlauben. Das lenkt zwar immer noch deutlich ab, aber trotzdem nur halb so stark wie der Touchscreen. Und andererseits muss schlicht und ergreifend begrenzt werden, welche Funktionen während der Fahrt überhaupt zur Verfügung stehen dürfen oder wie lang sich ein Fahrer höchstens mit dem Bildschirm beschäftigen darf. Denn eines ist sicher, wie Benoît Godart von Vias erinnert: Auch kleine Unterschiede können große Auswirkungen haben.
Boris Schmidt