Viel erreicht, aber noch viel zu tun. So könnte wohl der Titel der Bestandsaufnahme zum Weltfrauentag lauten. Im Kapitel "Viel erreicht" gibt es einige neue Punkte zu vermerken. Es reicht ein Blick auf das politische Personal: Die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern sind Frauen: Éliane Tillieux und Stephanie D’Hose. In der Föderalregierung herrscht zum ersten Mal Geschlechterparität. Und, nicht vergessen: Bis Oktober letzten Jahres hatte das Land mit Sophie Wilmès eine Premierministerin - auch das war eine Premiere.
Das sind zwar "nur" Titel, das habe aber eine enorme Signalwirkung, sagte in der RTBF Sarah Schlitz, die Staatssekretärin für Geschlechtergleichheit. Das habe Vorbildfunktion: "Es ist wichtig, dass alle kleinen Mädchen, dass alle Frauen wissen, dass es möglich ist, als Frau in Belgien Premierministerin zu werden."
Nur darf das auch nicht den Eindruck erwecken, dass es in puncto Gleichbehandlung nichts mehr zu tun gäbe. Nach wie vor gibt es die Gehaltsschere: In Belgien verdienen Frauen unter vergleichbaren Umständen im Durchschnitt 9,2 Prozent weniger als Männer. Diese Kluft wird zwar kleiner, "aber die Schritte sind so zaghaft, dass es beim derzeitigen Tempo noch bis 2066 dauern wird, bis die Gleichbehandlung erreicht ist", so Schiltz.
Natürlich gehört das zu den Prioritäten der Staatssekretärin für Geschlechtergleichheit. Doch hat die Corona-Krise für noch viel brennendere Probleme gesorgt. Schon im ersten Lockdown vor rund einem Jahr gab es gleich viele besorgniserregende Meldungen über eine Zunahme von häuslicher Gewalt. Ihre erste Aufgabe nach ihrem Amtsantritt im Oktober sei es denn auch gewesen, einen Aktionsplan auszuarbeiten, um hier Abhilfe zu schaffen, sagte Sarah Schlitz. Der Aktionsplan hat unter anderem die Betreuung und auch die Nachsorge für Opfer von häuslicher Gewalt gestärkt.
Gewalt gegen Frauen größte Baustelle
Gewalt gegen Frauen, das ist nach wie vor die größte Baustelle. Einige Zahlen sind einfach nur erschütternd: Jede fünfte Frau im Alter von 25 Jahren sei in ihrem Leben schon einmal mit sexueller Gewalt konfrontiert gewesen, sagte Premierminister Alexander De Croo.
Für die Opfer von sexueller Gewalt gibt es in Belgien seit einigen Jahren spezialisierte Anlaufstellen. Dort werden nicht nur medizinische Betreuung, sondern auch gleich Beratung und Beistand angeboten. Diese "Pflegezentren zur Betreuung nach sexueller Gewalt" haben den Vorteil, dass die Opfer dort alles bekommen, was sie brauchen. Dass sie vor allem nicht zwischen Krankenhaus und Polizeiwache hin- und herpendeln müssen, denn man kann dort auch seine Aussage machen. Bislang gab es drei solcher Einrichtungen. Bis 2023 sollen sieben weitere hinzukommen, davon drei in diesem Jahr. "Wir wollen erreichen, dass ein Pflegezentrum zur Betreuung nach sexueller Gewalt höchstens eine Stunde entfernt ist", sagt Sarah Schlitz.
Das Budget, das der Föderalstaat für den Kampf gegen sexuelle Gewalt zur Verfügung stellt, soll sich im gleichen Zeitraum verdoppeln - auf dann 18 Millionen Euro. Doch ist sich Premier De Croo dessen bewusst, dass auch das nicht reichen wird. "Man geht davon aus, dass nur drei bis vier Prozent der Fälle von Vergewaltigung am Ende zur Verurteilung des Täters führen. Das ist viel zu wenig", sagte De Croo nach einem Besuch in einem neuen Pflegezentrum zur Betreuung nach sexueller Gewalt in Gent. "Wir müssen darüber reden, wie man die Beweisaufnahme verbessern kann. Und wir müssen auch über das Strafmaß reden", sagt De Croo.
De Croo will im Parlament eine entsprechende Debatte anstoßen - insbesondere über das Strafmaß. Bislang steht auf Vergewaltigung eine Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis. In seinen Augen sei das wenig.
Roger Pint