Belgien erlebt wegen der Corona-Epidemie eine schlimme wirtschaftliche Krise. Gar keine Frage. Ja, es ist die schlimmste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch das stimmt. Aber trotzdem: Das Bruttoinlandsprodukt hat 2020 weniger gelitten, als viele Experten früher in der Krise befürchtet hatten. Das betonte der Gouverneur der Nationalbank, Pierre Wunsch, ausdrücklich.
Die Nationalbank habe zunächst mit einem Rückgang von acht Prozent gerechnet, dann sogar mit minus neun Prozent. Manche Experten seien noch pessimistischer gewesen. Sie hätten ein um zehn oder sogar elf Prozent geringeres Wachstum vorhergesagt, erklärte Wunsch. Letztlich sei man für das vergangene Jahr bei "nur" minus sechs Prozent gelandet. Die belgische Wirtschaft habe sich also sehr widerstandsfähig gezeigt, so Wunsch. Das gelte vor allem für das dritte Trimester 2020. Wegen der Lockerungen der Corona-Einschränkungen habe die Wirtschaft zu diesem Zeitpunkt wieder stark zulegen können.
Dann kam aber natürlich die zweite Corona-Welle und damit auch der zweite Lockdown. Und die Auswirkungen dieses Lockdowns sind je nach Sektor sehr unterschiedlich. Bei den Bereichen, die offen blieben beziehungsweise wieder öffnen durften, ist der Schaden relativ begrenzt geblieben. Das sieht natürlich bei den Sektoren, die zu bleiben mussten, ganz anders aus. Für sie sei die Situation ziemlich dramatisch, räumte der Gouverneur der Nationalbank ein.
Lob für Krisenmanagement
Lob gab es von Pierre Wunsch für das Krisenmanagement der politisch Verantwortlichen. Auch wenn es wahr sei, dass hierbei manchmal improvisiert worden sei. Durch das Eingreifen der Europäischen Zentralbank, der Föderalregierung und der Banken mit ihrem Moratorium sei ein Zusammenbruch der Wirtschaft verhindert worden, unterstrich Wunsch.
Ohne diese Maßnahmen hätte man sich wahrscheinlich in einer Situation wiedergefunden, die der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre geähnelt hätte. Stattdessen sei die jetzige Wirtschaftskrise zwar schlimmer als die letzte Finanzkrise. Der hatte Belgien ja relativ gut widerstanden. Aber die ökonomischen Auswirkungen der Gesundheitskrise seien wesentlich weniger schlimm als eben bei der Weltwirtschaftskrise.
Die Corona-Krise hat wirtschaftlich betrachtet auch noch eine besondere Eigenheit: Der Konsum der Menschen hat stark abgenommen - und zwar um acht Prozent. Und das ist für eine Rezession ungewöhnlich, hob der Gouverneur der Nationalbank hervor. Dass Investitionen und Exporte abnehmen, damit wird in Wirtschaftskrisen gerechnet. Aber normalerweise gilt das für den Konsum viel weniger. Anders gesagt: Die Menschen kaufen in einer Krise trotzdem oft weiter ein. Das sei während der Pandemie aber offenbar anders: Die Menschen seien weniger in die Geschäfte gegangen - sei es, weil diese geschlossen hatten, sei es, weil das Einkaufen aufgrund der Corona-Einschränkungen weniger angenehm war. Oder schlicht, weil die Menschen Angst hatten, sich anzustecken. Auch für bestimmte Dienstleistungen wie beispielsweise Reisen, Freizeitaktivitäten oder Restaurantbesuche konnte oft einfach kein Geld ausgegeben werden.
Rekord-Sparsamkeit
Das hat zu einer wohl teils ungewollten Rekord-Sparsamkeit bei den Belgiern geführt. Statt wie 13 Prozent des verfügbaren Einkommens im Jahr 2019 hätten die Menschen im letzten Jahr beeindruckende 21 Prozent beiseite gelegt. Das entspricht auf das ganze Land bezogen der schwindelerregenden Summe von 23 Milliarden Euro, die die Belgier 2020 nicht ausgegeben haben. Wobei natürlich klar ist, dass manche Menschen wirtschaftlich sehr schwer in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Aber global betrachtet liegt jetzt eben eine sehr große Summe auf der hohen Kante.
Was die Menschen mit dem Geld anstellen werden, wenn die Corona-Krise hinter ihnen liegt, ist natürlich eine Frage, über die man nur spekulieren kann. Ebenso wie über mögliche finanzielle Folgeerscheinungen. Eine Möglichkeit, die die Nationalbank aber in Betracht zieht, ist, dass es einen riesigen Nachholbedarf geben könnte. Und wenn die Menschen, die es sich leisten könnten, richtig in die Vollen gingen, dann könne sich die Wirtschaft schneller erholen als erwartet.
Manche Experten würden in diesem Zusammenhang von einem Szenario wie in den sogenannten "Goldenen Zwanzigern" sprechen, so Pierre Wunsch - von einem massiven Wirtschaftsaufschwung wie in den 1920er-Jahren nach der harten Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg.
Boris Schmidt