"Walen buiten", "Wallonen raus". In der Universitätsstadt Löwen brodelt es in den 1960er Jahren... 1962-63 war die Sprachgrenze gezogen worden; von da an gab es also quasi offiziell einen flämischen und einen frankophonen Landesteil. Für viele, vor allem junge Flamen war das aber nur eine Etappe in der "flämischen Emanzipation". Flandern sollte so homogen wie möglich werden; und außerdem wollte man mit allen Mitteln verhindern, dass die niederländische Sprache noch weiter zurückgedrängt wurde. Jegliche frankophone Präsenz in Flandern wurde denn auch zu einem Dorn in vielen Augen. Und die altehrwürdige Katholische Universität Löwen wurde quasi zum Symbol dieses Kampfes. Und ab 1967 wird die Atmosphäre immer grimmiger:
"Löwen flämisch", "wallonische Ratten, packt eure Sachen",... eindeutiger gings nicht mehr. Und spätestens, als sich Anfang 1968 auch noch Teile der flämischen Christlichsozialen auf die Seite der Demonstranten schlagen, wird das Ganze zum Politikum. Die Regierung Vanden Boeynants stürzt; das ist zudem der Beginn der Spaltung der bis dahin noch einheitlichen christlich-sozialen Partei. In der Folge werden ihre zwei Sprachflügel getrennte Wege gehen. Und auch die Kirchenverantwortlichen geben dem Druck nach: Im September 1968 wird endgültig die Aufspaltung der Katholische Universität Löwen beschlossen.
Doch wie soll das gehen? Nun, einige hatten genau diese Ereignisse kommen sehen. Der Bürgermeister der Gemeinde Ottignies in Wallonisch-Brabant war schon Monate zuvor an die frankophonen Universitätsverantwortlichen herangetreten, um ihnen ein Gelände auf dem Gebiet seiner Gemeinde anzubieten. 150 Hektar, im Großen und Ganzen Rübenfelder mit einigen wenigen verstreuten Bauernhöfen...
Man entscheidet sich also für das Gelände. Dort soll eine neue Stadt aus dem Boden gestampft werden. Eiligst werden Pläne ausgearbeitet, die schon 1970 abgesegnet werden. Am 2. Februar 1971, gerade mal zweieinhalb Jahre nach dem Spaltungsbeschluss, wird in Gegenwart von König Baudouin der Grundstein gelegt.
Besagter damaliger Rektor, Monseigneur Edouard Massaux, hat all das zeitlebens bedauert. Durch die Spaltung einer Institution, die nie hätte aufgespalten werden dürfen, hat man dem katholischen Geistesleben in Belgien einen schweren Schlag versetzt, sagte Massaux noch Jahre später in der RTBF. Nicht nur dem katholischen Geistesleben in Belgien, sondern in der ganzen Welt. Für die Katholische Kirche, die sich ja als universell versteht, war eine Unterscheidung zwischen Sprachgruppen bis dahin eigentlich undenkbar.
Das Ganze hatte aber auch absurde praktische Auswirkungen. Die Aufspaltung wurde bis in die kleinsten Bereiche durchexerziert. Buchreihen wie zum Beispiel alte Enzyklopädien wurden zum Teil allen Ernstes aufgeteilt: Die einen bekamen die Bücher mit den Buchstaben A bis M, die anderen die von N bis Z.
Der Umzug an sich erfolgt jedenfalls in Rekordtempo. Schon 1972, also ein Jahr nach der Grundsteinlegung, können die ersten Unterrichte in Louvain-la-Neuve organisiert werden. Die wissenschaftlichen Fakultäten machen den Anfang. Im Laufe der 1970er Jahre folgen immer mehr Fakultäten. Mitunter müssen Studenten in der Anfangszeit noch Unterrichten sowohl in "Alt"-, als auch in Neu-Löwen folgen.
Aus den ursprünglich 150 Hektar wurden schnell 900. Inzwischen erstreckt sich die Stadt Louvain-la-Neuve auf einer Fläche von rund 30 Quadratkilometern.
Denn: Es ist eine Stadt. Zwar bildet die Uni nach wie vor das Herz von Louvain-la-Neuve, inzwischen leben dort aber mehr ständige Bewohner als Studenten. Dies wohl auch, weil die Planer der 1970er Jahre eine weitgehend autofreie Stadt geschaffen haben. Das Zentrum von Louvain-la-Neuve steht quasi auf Stelzen; unter der Fußgängerzone befinden sich die Parkplätze.
Den Charakter einer Retortenstadt, die am Reißbrett entstanden ist, den hat Louvain-la-Neuve allerdings nie wirklich verloren. Das hat schon allein damit zu tun, dass fast überall der gleiche Stein verwendet wurde.
Für die Wallonie ist Louvain-la-Neuve im Großen und Ganzen aber eine Erfolgsgeschichte. Nicht nur, dass das alles in Rekordzeit entstanden ist, rund um die Stadt haben sich zudem Unternehmen und Spin-offs angesiedelt. Dort, wo vor 50 Jahren noch Rüben wuchsen, steht jetzt ein Wissens- und ein Wirtschaftspol mit überregionaler Strahlkraft.
Roger Pint