Belgien kämpft immer noch mit den Geistern seiner eigenen Vergangenheit. Jüngstes Beispiel war der "Bildersturm", der Mitte vergangenen Jahres nach dem Tod von George Floyd in den USA entbrannt war: Aktivisten beschädigten oder entfernten Standbilder, die an die Kolonialzeit erinnern, insbesondere Statuen und Büsten von König Leopold II., der ja den Kongo bis 1908 als sein Privateigentum betrachtet hatte.
Die Gräueltaten, die in dieser Zeit des sogenannten "Freistaat-Kongo" begangen wurden, hatten schon damals für einen weltweiten Aufschrei gesorgt. In der Zeit nach Leopold II. wurde das riesige zentralafrikanische Land ganz offiziell zur belgischen Kolonie; im Alltag der Kongolesen änderte sich dadurch freilich nicht besonders viel.
Ende der 1950er Jahre wuchsen weltweit die Unabhängigkeitsbestrebungen in den Kolonien. Auch im damaligen Belgisch-Kongo kam es zu Unruhen. Belgien entschloss sich kurzerhand, das Land in die Unabhängigkeit zu entlassen. Am 30. Juni 1960 war es soweit. Zu der feierlichen Zeremonie war sogar eigens der damals noch junge König Baudouin angereist. In seiner Rede preist Baudouin die Leistungen seines Vorgängers: Die Unabhängigkeit des Kongo sei sozusagen der Endpunkt der Arbeit, die Leopold II. in seiner Genialität begonnen und die Belgien später mit gleichem Elan fortgesetzt habe.
Das klingt nicht nur in heutigen Ohren furchtbar zynisch. Viele der kongolesischen Vertreter im Publikum machen gerade noch gute Miene zum bösen Spiel; einer von ihnen nimmt aber noch eiligst einige Veränderungen in seinem Redemanuskript vor. Und dann tritt dieser Patrice Lumumba ans Mikrofon. Er war gerade zum ersten Ministerpräsidenten des Landes ernannt worden. Und Lumumba feuert eine regelrechte rhetorische Breitseite ab: "Wir haben Spott gekannt, Beleidigungen über uns ergehen lassen " sagt Lumumba dem belgischen König zugewandt. "Morgens, mittags und abends haben wir Schläge ertragen müssen. Und das nur, weil wir schwarz waren. Wir wurden geduzt. Nicht, weil man uns als Freund betrachtete, sondern weil die höfliche Anrede 'Sie' nur Weißen vorbehalten war."
Lumumbas Rede wird immer wieder von tosendem Applaus unterbrochen. Für die belgische Delegation muss sich das wie eine Aneinanderreihung von schallenden Ohrfeigen angefühlt haben. Von da an stand der 34-jährige Lumumba wohl schon auf der Abschussliste. Buchstäblich. Zumal er das, was man schon aus der Rede heraushören konnte, dann auch politisch umsetzt.
Es ist eine kongolesisch-nationalistische Politik: Seiner Ansicht nach sollten die alten kolonialen Bindungen dahingehend gekappt werden, dass der Ertrag aus den Bodenschätzen jetzt zunächst einmal der kongolesischen Bevölkerung zugutekommen sollte. Das war freilich so gar nicht im Sinne der bisherigen Herren, nicht der Belgier und auch nicht der USA. Es war die Hochzeit des Kalten Krieges. Und spätestens, als Lumumba die Sowjetunion um Unterstützung bat, hatte er wohl sein Todesurteil unterschrieben.
Gefoltert und erschossen
Auf Druck aus Brüssel und Washington wurde Patrice Lumumba abgesetzt und unter Hausarrest gestellt. Zwar gelang ihm die Flucht, er wurde aber schnell wieder festgenommen. Die folgenden Ereignisse hat ein Untersuchungsausschuss der Kammer erst im Jahr 2000 rekonstruiert. Demnach wurde Lumumba zusammen mit zwei Mitstreitern in die damals abtrünnige und von Belgien unterstützte Provinz Katanga verschleppt und den dortigen Verantwortlichen ausgeliefert. Diese, seine Erzfeinde, machten kurzen Prozess: Lumumba wird gefoltert und erschossen. Das war vor genau 60 Jahren, am 17. Januar 1961. Seine sterblichen Überreste werden unter anderem von einem belgischen Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter zerstückelt und in Säure aufgelöst.
Ob der Befehl zu dem Mord aus Brüssel oder Washington kam, das konnte nicht endgültig geklärt werden, aber es ist überdeutlich, dass Belgien und auch die USA zumindest Druck in genau diese Richtung gemacht haben.
Ziel war es, den Kongolesen deutlich klar zu machen, dass es keine Option war, die Brücken zu den alten Kolonialmächten abzuschlagen, sagte in der RTBF der kongolesische Historiker Elikia M'Bokolo. Es war eine Form von Terror, um sie dazu zu bringen, dem afrikanischen Nationalismus abzuschwören.
Aufarbeitung
Den Namen "Patrice Lumumba" konnten die Zyniker von damals aber nicht auslöschen. Er wurde vielmehr zum Inbegriff des afrikanischen Freiheitshelden. Und bis heute tut sich auch Belgien schwer mit der Aufarbeitung seiner Vergangenheit. Immerhin wurde vor zwei Jahren in Brüssel ein Platz nach Patrice Lumumba benannt.
Im Fahrwasser der Black-Lives-matter-Proteste wurde zudem ein neuer Sonderausschuss eingesetzt, der sich noch einmal über die Kolonialvergangenheit beugen soll. Und König Philippe hatte ja im vergangenen Jahr in einem Brief sein "tiefstes Bedauern über die Verletzungen der Vergangenheit" ausgedrückt. Das sei zwar nicht genug, sagen Historiker M'Bokolo und andere, aber das sei immerhin ein Anfang.
Roger Pint