Den Experten des Nationalen Krisenzentrums war klar, welchen Eindruck die Veröffentlichung der neuesten Zahlen des Instituts für Volksgesundheit (Sciensano) zumindest bei Laien haben würde. Vier Tage nacheinander steigende Ansteckungen. 27 Prozent Zunahme auf Wochenbasis im Landesdurchschnitt. Das ist fast schon wieder eine Verdoppelung zu den 14 Prozent von Montag.
Genau deswegen begann der Virologe Steven Van Gucht die Pressekonferenz auch nicht mit den Zahlen, sondern mit einer Erklärung, warum die auf den ersten Blick so dramatisch erscheinen. Vorausschauendes In-den-richtigen-Kontext-setzen könnte man das wohl nennen.
Punkt Nummer eins: Die Anzahl der täglichen Tests hat sehr stark zugenommen. Genauer gesagt ist sie von 25.000 auf 40.000 pro Tag gestiegen. Das hat auch mit der weihnachtsferienbedingten Reisewelle zu tun. Bekanntermaßen müssen sich alle Urlauber, die sich länger in einer Corona-Hochrisikozone aufgehalten haben, verpflichtend testen lassen. Da ja quasi ganz Europa als rote Zone gilt, fallen da so gut wie alle Reisenden drunter. Und, das muss man auch sagen: Trotz eindringlichsten Aufforderungen der Experten und Behörden sind sehr viele Menschen ins Ausland gereist – sei es, um die Feiertage mit der Familie zu verbringen, oder einfach, um in den Urlaub zu gehen. Und die Tests all dieser Rückkehrer schlagen sich natürlich auch in den Statistiken nieder.
Das ist aber nicht der einzige Grund für die hohe Steigung. Der Referenzzeitraum, also die Periode, mit deren Durchschnittswert die aktuellen Werte verglichen werden, beinhaltet jetzt auch den 1. Januar, also einen Feiertag, wie Van Gucht erklärte. Man vergleicht also Ansteckungszahlen aus einer normalen Arbeitswoche mit einer Woche, die einen Feiertag enthält. Und es erscheint logisch, dass sich wohl nicht viele Menschen an Neujahr haben testen lassen. Das verzerrt die Berechnung der Steigung natürlich auch.
Positivitätsrate stabil
Deswegen kann man auch keinen echten Trend ausmachen, wie der Virologe betonte. Man müsse erst einige Tage abwarten, bis diese verzerrenden Faktoren begännen, ihren Effekt zu verlieren. Erst dann werde sich langsam abzeichnen, ob die Kurven tatsächlich aufwärts gehen, oder nicht. Man sollte auch festhalten, dass diese Steigungen aktuell ohnehin nur die bestätigten Neuinfektionen betreffen. Die Anzahl der Krankenhausneuaufnahmen sinkt weiter. Genauso wie die der Sterbefälle, wobei hier ohnehin eine größere zeitliche Verschiebung eingerechnet werden müsste.
Ein besserer Indikator ist also wohl die sogenannte Positivitätsrate, also der Anteil der positiv ausgefallenen Corona-Tests bezogen auf die Gesamtzahl aller gemachten Tests. Dieser Wert sei stabil geblieben, erklärte der Virologe Jean Ruelle von der Katholischen Universität Löwen in der RTBF. Das weise darauf hin, dass man in der Tat einen Effekt sehe, der durch die Zunahme der gemachten Tests hervorgerufen wird.
Kein Grund zur Entwarnung
Ein Grund zur Entwarnung ist das allerdings nicht. Auch das unterstrich Van Gucht. Die Corona-Situation bleibe fragil. Und ein Wiederaufflackern der Epidemie in den kommenden Wochen sei mit Sicherheit eine Möglichkeit.
Dem pflichtet auch Ruelle bei. Im jetzigen Stadium müsse man die Kontrolle auf die Einhaltung der Quarantänen verstärken, um zu verhindern, dass das zum Beginn einer dritten Corona-Welle werde. Weil mehr Tests hin oder her, Fakt bleibt, dass es eben absolut betrachtet mehr bestätigte Menschen gibt, die das Virus in sich tragen und damit ansteckend für andere sind.
Abweichende Virus-Varianten
Hier kommt auch noch eine andere Problematik ins Spiel: die der abweichenden Coronavirus-Varianten, zum Beispiel die ansteckendere sogenannte "britische Variante". Hiervon gibt es in Belgien bisher nur sechs bestätigte Fälle. Aber Ruelle geht davon aus, dass es in Realität sehr viel mehr sein könnten. Die meisten Tests können nämlich nur feststellen, dass jemand infiziert ist. Aber nicht, ob er möglicherweise eine der neuen Varianten in sich trägt.
Die begrenzte Anzahl an Laboren, die Verdachtsfälle aufspüren könne, berichtete von immer mehr auffälligen Proben. Diese müssten durch eine aufwändige Genomanalyse untersucht werden. Deswegen sei es wahrscheinlich, dass die neuen Varianten bereits weiter verbreitet seien, als bisher angenommen, so Ruelle.
Boris Schmidt