Epidemiologisch gesehen befinden wir uns derzeit in einer doch "besonderen" Lage, sagte Premierminister Alexander De Croo am Donnerstag in der Kammer. Außergewöhnlich allein schon deswegen, weil Belgien tatsächlich im Moment mal in einer positiven Rangliste oben mitspielt. Kaum irgendwo sind die Corona-Zahlen so gut wie hier. "Gut" ist natürlich ein relativer Begriff. "Gut" heißt im vorliegenden Fall: nicht ganz so schlecht wie anderswo.
Aber, immerhin! Wir haben unverhofft gute Zahlen, sagte De Croo in der Kammer. Im Vergleich zu anderen Ländern in Europa ist Belgien im Moment so eine kleine Insel. Und das ist das Ergebnis unserer gemeinsamen Anstrengungen.
Nur, und das ist das Problem mit solchen Meldungen: Das bedeutet nicht, dass dafür jetzt alle Schleusen geöffnet werden können. Das betonte sinngemäß auch der Premier. Wenn er von einer "besonderen Situation" sprach, dann auch, weil es eben im Moment eine Reihe von Unwägbarkeiten gibt, De Croo sprach sogar von "Risiken". Es gibt die sogenannte britische Variante, die wesentlich ansteckender ist. Es gibt die Mitbürger, die aus dem Ausland zurückgekehrt sind. Und es gibt die möglichen Spätfolgen der Weihnachtsfeiertage. All das sollte uns eigentlich vorsichtig machen, und er werde beim Konzertierungsausschuss auch in diese Richtung plädieren.
Wir müssen die Lage permanent im Auge behalten, sagt De Croo. Und tatsächlich: Wir befinden uns gerade in einer heiklen Phase. Das bestätigte am späten Vormittag auch Sciensano-Sprecher Yves Van Laethem. Zwar sinken die Zahlen der Krankenhausaufnahmen und auch die der Covid-bedingten Todesfälle immer noch, aber es gibt auch eine besorgniserregende Entwicklung: Die Zahl der Neuinfektionen sinkt nur noch sehr zaghaft. Es könnte sogar sein, dass sie in den nächsten Tagen wieder leicht ansteigt.
Spätestens diese Erkenntnis wird wohl ausreichen, um tatsächlich die von Alexander De Croo empfohlene Vorsicht walten zu lassen. Allgemein liest und hört man jedenfalls, dass im Moment wohl nicht an Lockerungen zu denken ist. Zumal die Gesundheitsexperten ja auch eigentlich sehr konkrete Schwellenwerte in den Raum gestellt haben: 800 Neuinfektionen und 75 Krankenhausaufnahmen pro Tag. Und das nicht einmal, sondern über einen längeren Zeitraum. Also: Erst, wenn diese Schwellenwerte erreicht sind, kann über Lockerungen nachgedacht werden. Und davon sind wir im Moment noch weit entfernt: Beide Werte liegen im Moment mehr oder weniger doppelt so hoch.
Also: Keine Lockerungen, davon kann man wohl ausgehen. Wenn überhaupt, dann wird die eine oder andere Retusche vorgenommen.
Was nicht heißt, dass es keine Diskussionen geben wird. Denn: Einige Sektoren haben in den letzten Tagen den Druck spürbar erhöht. Und vor allem die frankophonen Liberalen MR haben sich zum Anwalt dieser Branchen gemacht. Die Rede ist vor allem von den sogenannten nicht-medizinischen Kontaktberufen, also insbesondere Frisör- und Schönheitssalons.
MR-Chef Georges-Louis Bouchez forderte in Presseinterviews, dass man denen doch wenigstens eine Perspektive geben möge. Der MR-Föderalminister David Clarinval, der unter anderem für den Mittelstand zuständig ist, wiederholte dieses Plädoyer heute nochmal in der Zeitung De Standaard: Man müsse wenigstens eine Reihenfolge festlegen, also priorisieren, welche Branchen als erste wieder öffnen dürfen und unter welchen Bedingungen. Das wäre also, grob gesagt, eine konkrete Exitstrategie.
Presseberichten zufolge könnte der Konzertierungsausschuss wohl gleich mehrere Szenarien ausarbeiten. Man spricht von den Plänen A, B und C, die also je nach Lage greifen würden: Wenn die Zahlen weiter sinken, aber auch, wenn sie plötzlich wieder steigen. Plan C wäre der Fall, dass die Zahlen wegen der britischen Variante plötzlich sogar dramatisch ansteigen würden. Und, Teil dieser Pläne wäre auch die Einführung gewisser Automatismen, nach dem Motto: Wenn diese und jene Zahl eine bestimmte Schwelle überschreitet, dann greift eine Reihe von Maßnahmen. Das wäre also das vor einigen Monaten viel beschworene Barometer, wenn es auch nicht mehr so heißen würde.
Schließlich werden die Vertreter der verschiedenen Regierungen des Landes wohl auch noch über die Impfstrategie sprechen. Die zuständige Taskforce hat am späten Vormittag im zuständigen Ausschuss ihre neue Bestandsaufnahme präsentiert. Die Rede ist von einer möglichen Optimierung der Impfkampagne; dies auf der Grundlage der neusten Entwicklungen...
Roger Pint