Es ist die Nacht vom 16. auf den 17. Mai 2018. Einer Streife der Föderalen Polizei fällt auf der E42 nördlich von Namur ein weißer Lieferwagen mit gefälschten Nummernschildern auf. Die Beamten fahnden in dieser Nacht nach Schleppern. Sie beschließen, den Lieferwagen zu kontrollieren. Eindeutigen Aufforderungen kommt der Fahrer nicht nach. Es kommt zu einer Verfolgungsjagd, an der unter anderem auch weitere Beamte aus dem Hennegau beteiligt sind.
Nach Aussagen der Polizei schlagen die Insassen des Lieferwagens eine Rückscheibe des Fahrzeugs ein, werfen Gegenstände nach draußen und halten Kinder vor und auch aus der Fensteröffnung. Weil die Funkgeräte der Hennegauer Beamten anders eingestellt sind als die der Kollegen aus Namur, ist keine direkte Verständigung möglich.
Einem Wagen der Hennegauer Polizei gelingt es schließlich, sich neben den Lieferwagen zu setzen, die Beamten zeigen dem Fahrer ihre Waffen. Der aber fährt weiter. Dann fällt ein Schuss aus der Waffe des Beifahrers im Streifenwagen. Er trifft Mawda tödlich am Kopf. Kurze Zeit später ist die Verfolgungsjagd in der Nähe von Mons vorbei.
Die Beamten finden in dem Lieferwagen rund 30 Menschen, die nach Großbritannien wollten, darunter die Eltern und den kleinen Bruder von Mawda. Es handelt sich um irakisch-kurdische Kriegsflüchtlinge. Sie werden, wie die anderen Flüchtlinge auch, nach einem Verhör freigelassen. Die meisten der Migranten tauchen unter. Später werden zwei Iraker wieder aufgriffen. Die Justiz hält sie für den Organisator und den Fahrer.
Im Nachhinein wird sich außerdem herausstellen, dass die französische Polizei im Rahmen einer Operation gegen Menschenschmuggel einen Peilsender an dem Lieferwagen befestigt hatte. Die Föderale Gerichtspolizei Ostflanderns war darüber informiert worden - die Autobahnpolizei jedoch nicht.
Drei Angeklagte
Vor dem Strafgericht in Mons hat am Montag die Verhandlung begonnen, die auf zwei Tage angesetzt wurde. Das sei damals die schwerste Nacht im Leben von Mawdas Eltern gewesen, erklärte deren Anwältin Mieke Van den Broeck in der VRT. Vor Gericht stehen drei Männer: Der Polizist, aus dessen Waffe der tödliche Schuss gefallen ist, muss sich wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Falls er schuldig gesprochen wird, drohen ihm zwischen drei Monaten und zwei Jahre Gefängnis und eine Geldbuße. Den beiden mutmaßlichen Schleusern wird gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr mit Todesfolge vorgeworfen. Ihnen drohen 20 bis 30 Jahre Gefängnis.
Die beiden Iraker stritten auch vor Gericht alle Vorwürfe ab und gaben an, sich zum Zeitpunkt des Todes von Mawda hinten im Fahrzeug und nicht in der Fahrerkabine aufgehalten zu haben. Auch bekräftigte einer von ihnen auf Nachfrage, dass er fünf oder sechs Schüsse und nicht nur einen gehört habe. Ansonsten beriefen sich beide auf Erinnerungslücken, auch was sie belastende Spuren angeht, die vorne im Wagen entdeckt worden waren, unter anderem am Lenkrad und am Schaltknüppel.
Laurent Kennes, der Anwalt des Polizisten, betonte derweil, dass sein Mandant auf den linken Vorderreifen des Lieferwagens gezielt habe. Und auch wenn es sich um ein furchtbares Drama handele, könne man nicht einfach irgendeine Strafe für seinen Mandanten fordern, so Kennes unter Bezug auf Mawdas Eltern, die eine Anklage wegen Vorsatzes fordern. Das sah die Anwältin der Eltern, Mieke Van den Broeck, anders. Wer auf einen sich bewegenden Lieferwagen feuere, der wisse, dass dabei jemand verletzt oder getötet werden könne.
Das Kontrollorgan der Polizei, das Komitee P, hatte in einem Bericht zu dem Vorfall Anfang 2019 angemerkt, dass Beamten stark davon abgeraten würde, auf Reifen eines in Bewegung befindlichen Fahrzeugs zu schießen, um Todesopfer und Verletzungen zu vermeiden. Es kritisierte auch, dass die Beamten dem Fahrer des Lieferwagens ihre Waffen gezeigt hätten, das sei keine anerkannte Praxis. Allerdings stellte das Komitee P auch fest, dass es aufgrund der Probleme mit den Funkgeräten nicht klar sei, ob die Besatzung des Hennegauer Streifenwagens habe wissen können, dass sich Flüchtlinge und Kinder in dem Fahrzeug befanden.
Der Polizist selbst zeigte sich vor Gericht tief betroffen von Mawdas Tod. Er bereue sein damaliges Vorgehen, aber er habe nicht gewusst, dass sich Kinder an Bord befunden hätten. Sonst hätte er seine Waffe nicht gezogen. Er habe auf den Reifen schießen wollen, weil er das angesichts der lebensgefährlichen Fahrweise des Lieferwagens für die einzige Lösung gehalten habe.
Das Gericht hörte am Montag aber auch den Gerichtsmediziner, der damals die Autopsie an Mawda durchgeführt hatte, und einen Ballistikexperten an. Für beide belegten die Untersuchungen, dass sich Mawda am wahrscheinlichsten in der Fahrerkabine befand, als sie von der Kugel getroffen wurde. Und nicht, wie von den Eltern bei der Rekonstruktion angegeben, im hinteren Teil in einer Baby-Tragetasche gegenüber ihrer Mutter. Es habe auch keine Hinweise auf Einschüsse in diesem Teil des Fahrzeugs gegeben. Genauso wenig wie Hinweise, dass Mawda dort von Teilen der Kugel getroffen worden sei.
Alles deute auf einen Schuss hin, der durch das linke Seitenfenster der Fahrerkabine ein- und durch das rechte wieder ausgetreten sei. Der Ballistikexperte hält es auch nicht für ausgeschlossen, dass sich der Schuss aus der Waffe des Polizisten tatsächlich durch einen Reflex beziehungsweise ein unfreiwilliges Drücken des Abzugs gelöst haben könnte.
Nach der Anhörung der Experten und der Anklagevertreter am Montag sollen am Dienstag die Vertreter der Verteidigung vor Gericht gehört werden.
Boris Schmidt