Wohl noch nie war der erste Schultag nach einer Ferienperiode mit so vielen Fragen und Sorgen verbunden. Für die unteren Jahrgänge wird seit Montag wieder Präsenzunterricht organisiert, ab der zweiten Stufe der Sekundarschule werden die Klassen in der Praxis halbiert.
Vor einigen Tagen hatte Dominique Benoit, der Chef der Intensivmedizin der Uni-Klinik Gent, eine Meinung ausgesprochen, mit der er in Flandern oft zitiert wird. "Wissen Sie, ich kann es ja den Schülern gönnen. Aber wenn es nach mir ginge, dann blieben die Schulen geschlossen. Für eine Wiederöffnung ist es noch zu früh", sagte Benoit in der VRT.
So denken tatsächlich viele Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte. In den Krankenhäusern hat man schlichtweg nicht den Eindruck, als könne man im Moment auch nur das kleinste Risiko eingehen. Im Moment liegen rund 1.500 Patienten auf der Intensivstation, begründete auch Doktor Dominique Benoit seine Skepsis. Und diese Zahl entspricht auch noch mehr oder weniger der heutigen Realität.
Viel mehr ist nicht möglich. Allerhöchstens stehen 2.000 Intensivbetten zur Verfügung, das ist ohnehin eher ein theoretischer Wert. "Wir sind also nur ganz knapp einer Katastrophe entgangen. Lasst die Schulen bitte erst noch geschlossen", so also die Botschaft des Intensivmediziners, und das würden viele seiner Kollegen wohl unterschreiben.
Neue Erkenntnisse
Noch größer wird die Sorge angesichts neuer Studien. Die scheinen darauf hinzuweisen, dass Kinder doch nicht so wenig von dem Infektionsgeschehen betroffen sind, wie man das bislang geglaubt hatte. Im Raum Lüttich hat das Universitätskrankenhaus Sart-Tilman eine Studie in einigen Schulen durchgeführt. "Und wir haben festgestellt, dass Kinder infiziert waren, die eigentlich zuhause recht isoliert sind. Sie können sich also fast nur in der Schule angesteckt haben", sagte die Infektiologin Christelle Meuris in der RTBF. Man könne also nicht behaupten, dass die Kinder sich nicht gegenseitig anstecken.
Eine Studie der KU Löwen hat außerdem gezeigt, wie sehr Kinder dem Virus tatsächlich ausgesetzt waren. Als Grundlage dienten die sogenannten serologischen Tests, die Antikörper nachweisen. Die Präsenz von Antikörpern ist ja der Beweis, dass der Betreffende in der Vergangenheit mit dem Coronavirus infiziert war.
Dabei habe man festgestellt, dass der Anteil infizierter Kinder ähnlich hoch liegt wie bei den Erwachsenen, sagte der Epidemiologe Marius Gilbert in der RTBF. Kinder können sich offensichtlich durchaus mit dem Coronavirus infizieren. "Nur sind sie dann doch nicht so ansteckend. Oft bleiben Kinder asymptomatisch und man weiß, dass asymptomatische Infizierte das Virus in geschlossenen Räumen weit weniger übertragen", sagt Marius Gilbert.
Nichts desto trotz: Die Frage, ob die Schulen im Infektionsgeschehen eine Rolle spielen, die könne man nicht mit Ja oder Nein beantworten. "Die Antwort liegt in der Mitte. In dem Sinne: Ja, es gibt Ansteckungen in den Schulen. Dieses Phänomen ist aber 'im Verhältnis' nicht alarmierend", so Gilbert.
Schulen als Priorität
Und das ist dann das famose "kalkulierte Risiko", von dem in den letzten Tagen und Wochen immer wieder die Rede war. "Zwar weiß man, dass das Ansteckungsrisiko in den Schulen nicht null ist", erklärt Marius Gilbert. "Man geht aber davon aus, dass Infektionen in den Schulen nicht dazu führen werden, dass der R-Wert wieder größer als eins wird, dass das Infektionsgeschehen wieder Fahrt aufnimmt."
Und es gibt auch einen guten Grund, warum man dieses "kalkulierte Risiko" eingeht. Dem zugrunde liegt die gesellschaftliche Entscheidung, alles zu tun, um die Schulen offenhalten zu können. Das ist und bleibt eins der prioritären Ziele, und dem wird vieles andere untergeordnet. De facto ist es so, dass viele andere Teile des öffentlichen Lebens auch deswegen heruntergefahren wurden, um eben diesen Spielraum zu schaffen - damit man den Schulen dieses "kalkulierte Risiko" überhaupt zugestehen kann.
Es ist und bleibt aber eine Gratwanderung, sind sich die Experten einig. Sie wollen die Zahlen in den nächsten Tagen sehr genau im Auge behalten.
Roger Pint