"Unverständlich, unerklärlich, unannehmbar!". Der Zeitung Le Soir fehlten fast die Worte angesichts der katastrophalen Lage, in die das Land geschlittert ist. In den Krankenhäusern ist die Lage prekär, in einigen regelrecht dramatisch. Wie ist es möglich? Wie kann es sein, dass ein Land derartig schlafwandlerisch in eine Krise stolpert, vor der doch jeder seit Wochen und Monaten warnt? Es gibt nicht einen einzigen Grund, das Ganze ist komplex, sagte die bekannte Infektiologin Erika Vlieghe am Wochenende in einem langen RTBF-Interview.
Auch die Zeitung De Standaard hat versucht, die Ereignisse der letzten Wochen zu rekonstruieren. Das Protokoll liest sich teilweise wie die Chronik einer angekündigten Katastrophe.
Die Rekonstruktion beginnt Ende August, Anfang September. Der Nationale Sicherheitsrat vom 20. August hat erneut eine Reihe von Lockerungen beschlossen. Das scheint so ein bisschen in der Luft zu liegen: Das allgemeine Gefühl, dass das schlimmste hinter uns liegt. Dass Brüssel genau in dem Moment auf der Karte des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten schon als "dunkelbraune" Zone gekennzeichnet ist, will offensichtlich niemand sehen. In der Hauptstadt wurden zu dem Zeitpunkt 120 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner registriert - in Deutschland wäre das Grund genug gewesen für einen lokalen Lockdown.
Aber immerhin: Im August gilt noch die allgemeine Maskenpflicht im Öffentlichen Raum. Nur liegt für einige Experten genau hier das Problem: "Die Maßnahmen, die im Sommer galten, wurden in Teilen von den Menschen als unverhältnismäßig empfunden", zitiert De Standaard einen Motivationspsychologen: Unverhältnismäßig im Vergleich zum tatsächlichen Risiko. Genau hier und genau deswegen sei die Akzeptanz vieler Bürger weggebrochen. Dass die Lage da stellenweise durchaus schon gefährlich war, wurde als "Panikmache" abgetan.
Dann folgt der inzwischen als "schicksalhaft" gebrandmarkte Nationale Sicherheitsrat vom 23. September. Die Regierung Wilmès folgt ihrer Marschlinie: Das sei der Beginn der Phase des Risikomanagements, sagte Sophie Wilmès. Und es wurden weitere Lockerungen angekündigt. Im Nachhinein betrachtet, war das ein Fehler, räumte der heutige Corona-Kommissar Pedro Facon vor einigen Tagen in der VRT ein: "Wir haben zu schnell gelockert".
"Und damit haben wir weite Teile der Bevölkerung definitiv verloren", sagt ein ungenanntes Mitglied des Beratergremiums Celeval in De Standaard. Auch diejenigen nämlich, die sehr wohl die Gefahr sahen und die sich strengere Maßnahmen gewünscht hätten. Denn: Die Zahl der Neuinfektionen hatte genau an diesem Tag die 1.600er Marke erreicht. Nur zum Vergleich, schreibt De Standaard: Hätte Deutschland zu diesem Zeitpunkt dieselben Zahlen gehabt, also dasselbe Infektionsgeschehen je 100.000 Einwohner, dann hätte Berlin einen Teil-Lockdown verhängt. Belgien war an jenem 23. September schon da, wo Deutschland jetzt ist. Das sagt doch, was es sagt.
Also, nochmal die Frage: Warum gibt der Nationale Sicherheitsrat am 23. September in einem solchen Moment ein Signal, das in die völlig entgegengesetzte Richtung zeigt? "An uns hat es nicht gelegen", sagte Erika Vlieghe. "Wir haben schon Wochen vorher den Eisberg kommen sehen. Ruder nach links, Ruder nach links, haben wir unzählige Male gesagt." Das Ruder wurde allerdings erst jetzt herumgerissen.
Das ist keine Nachdeutung. Schließlich war Vlieghe nach dem besagten Sicherheitsrat vom 23. September zusammen mit anderen sogar in einen "Schweigestreik" getreten - weil sie keine Entscheidungen erläutern wollte, die sie nicht nachvollziehen konnte.
Vlieghe war von Anfang an Mitglied der diversen Beratergremien. Sie war live dabei, als Anfang September eine folgenschwere Entscheidung getroffen wurde: Das Beratergremium Celeval wurde umstrukturiert. Die Gesundheitsexperten waren nicht mehr alleine, sondern saßen neben Ökonomen und sogar Lobbyvertretern. Damit wurde das Gewicht der Experten verkleinert - auch das passte in die damalige Zeit. Damals war ein oft gehörter Vorwurf, dass die Politik allzu gefügig den Wissenschaftlern folgte. Von denen viele damals als "Unglückspropheten" bezeichnet wurden.
Mit der Politik abrechnen
Vlieghe ist aber ganz offensichtlich nicht darauf aus, mit der Politik abzurechnen. Nüchtern stellt sie fest, dass Wissenschaftler die Zahlen anders sehen als Politiker. Der Wissenschaftler antizipiert, will vorbeugen. Politiker ticken hingegen anders, sagt Erika Vlieghe. Nicht nur, dass der eine oder andere Politiker nicht gewusst habe, was eine exponentielle Steigerungsrate ist, sagt Vlieghe. Hier spiele auch das Präventionsparadox mit: Wenn man gute Vorbeugearbeit leistet, dann gibt es wenig Schaden. Dann meinen plötzlich Leute, es habe nie ein Problem gegeben. "Gewisse unserer Politiker glauben schlichtweg nicht an Prävention".
Das erklärt immer noch nicht alles. "Komplex" sei das Ganze. Weil hier tatsächlich mehrere Dinge gleichzeitig passierten. In dieser Zeit zwischen Mitte August und Ende September war die Regierung Wilmès quasi auf Abruf - die Premierministerin inklusive. Es wurde über eine neue Regierung verhandelt. Der amtierenden Equipe fehlte die Kraft, und zudem die Legitimation: Man verfügte schließlich nur über rund die Hälfte der erforderlichen Sitze im Parlament. Wilmès musste sich am 20. September sogar selbst in die Regierungsverhandlungen einschalten. Alle Augen - die der Politiker, der Medien und der Bürger - waren auf die Regierungsbildung gerichtet. Die Gesundheitsexperten predigten in der Wüste. Genau in dieser Phase schlug das Virus mit unbarmherziger Härte und Schnelligkeit zu. Angesichts des föderalen Vakuums hätten die Teilstaaten in die Bresche springen können - vor allem Brüssel und die Wallonie, wo die Zahlen regelrecht zu entgleisen beginnen. "Doch haben sie abgewartet", sagt die Antwerpener Provinzgouverneurin Cathy Berx in De Standaard. "Wie Frösche, die ganz langsam gekocht werden".
Anfang Oktober: Die neue Regierung wird eingesetzt. Immer noch zieht das politische Geschehen in der Rue de la Loi alle Blicke auf sich. Währenddessen gehen die Zahlen quasi unbemerkt durch die Decke. Nur ein Beispiel: Am 10. Oktober überschritt die Zahl der Neuinfektionen die 5.000er Grenze. Als Spanien die gleichen Zahlen hatte, wie Belgien an jenem 10. Oktober, rief Madrid den Notstand aus. Das war vor drei Wochen. Zwar hat die neue Regierung in der Zwischenzeit einige Schrauben angezogen, der Lockdown kam aber im Vergleich zu anderen EU-Ländern nicht spät, sondern viel zu spät.
"Politisches Vakuum, Unvermögen, Abwarte-Haltung": Nach den Rekonstruktionen von De Standaard und der RTBF wundert man sich leider über gar nichts mehr. Die vielleicht schmerzlichste Feststellung ist allerdings, dass viele Bürger das Ganze offensichtlich als einen Freibrief verstanden haben. Spätestens nach dem 23. September wurden die Regeln regelrecht in den Wind geschossen - was ohnehin schon zu den Nationalsportarten gehört. Premierminister Alexander De Croo drückte es so aus: Kein Gesetz, keine Regel kann das Virus aufhalten, das können nur wir alle.
Roger Pint
Super Bericht.
Das Problem von guten Politikern ist, sie versuchen einen Mittelweg zu finden.
Also nur einfache Masken. Um keinen Zorn von z.B. Vollbarttraegern zu bekommen, hat keiner gewagt zu sagen, der Bart muss eigentlich ab, da die Masken nicht nah genug ansitzen.
Dann frage ich, warum haben Personen, mit super vielen Kontaken in der Woche, wie Lehrer, Kellner, Busfahrer, Mitarbeiter in Supermaerkte, Apotheker, Krankenhauspersonal und viele Berufe mehr, aktuell keinen einfachen Zuggang zu FFP2 Masken?
Die sollten in jeden Supermarkt fuer max. 1 Euro angeboten werden.
Hier nur auf die Stoff Fremdschutzmasken zu setzen finde ich absolut falsch.
Im Sommer hatte ich im Schnitt 200 bis 300 Kinder pro Woche (7 Tage Woche) ohne Maske im Laden. Dazu kommen noch die Personen die Ihre Masken aus verschieden Gruenden recht luftig getragen haben. Also 300 bis 400 Personen pro Woche, die keinen ausreichen Fremdschutz hatten.
Danke, für Ihren Beitrag!
Wie dem auch sein mag, es erscheint nun um so wichtiger, die Menschen in geeigneter Weise aufzuklären. Den Bürgern verständlich zu machen, dasse s nicht nur die "Maßnahmen" der Regeirung und der Verwaltung sind, welche das Problem lösen sollen, sondern ein jeder Bürger durch sein Verhalten dazu beitragen kann, dass alles schnell vorüber geht.
Aufklärung ist wichtig, nicht nur Verbote und Gebote. Information, damit ein jeder versteht um was es geht und was zu beachten ist. Nur dann schaffen wir es gemeinsam.
Wahrscheinlich wird man nie eine Erklärung finden. Zu komplex diese "histoire belge" mit den vielen Machtebenen, die manchmal miteinander, oft nebeneinander und sehr oft gegeneinander arbeiten.
Belgien ist und bleibt eben das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten. Ein Paradox par Excellence.
Äußerst interessanter und in wohl allen Punkten nachvollziehbarer Bericht.
Es fehlt nur der Hinweis, dass auch in der DG zum genannten Zeitpunkt, die völlig falschen Prioritäten gesetzt, die falschen Signale gesendet und die falschen Entscheidungen getroffen wurden.
Auf der Insel DG, glaubte man sich in Sicherheit, kämpfte um offene Grenzen, setzte auf Eigenverantwortung und löste sich als Paradieswächter von der Provinz Lüttich.
Fatale Botschaft.
Die bereits bedrohlich anrollende Welle wurde übersehen. Längst ist sie über uns zusammen gebrochen.
Dafür müssen keine Köpfe rollen, dafür sind die Zeiten zu ernst.
Aber wie wäre es (in Eupen, Bütgenbach und St. Vith), mit einem zumindest leisen Mea Culpa?
Sehr gute Darstellung der Lage - ich denke das kann man so für ganz Europa übernehmen!
Ich bin ebenfalls der Ansicht das die initialen Fehler auf Seiten der Politik gemacht wurden und noch gemacht werden, man denke nur einmal an das Frühjahr wo Grenzschliessungen statt Maskenpflicht verordnet wurden oder Mitfahrer im PKW hinten sitzen mussten, einfach nur dumm war das. Leider jedoch mit der Konsequenz das so ziemlich jeder schnell dahinter kam WIE dumm viele dieser "Maßnahmen" waren (und leider noch sind) und diese Planlosigkeit in den Verordnungen dazu führte dass die Akzeptanz bei leider sehr vielen Menschen nahezu komplett komplett verloren gegangen ist.
Und wir können es drehen und wenden wie wir wollen, es hängt nach wie vor an jedem Einzelnen wie sich die Sache weiterentwickeln wird.
Ich drücke die Daumen dass die Einsicht doch bei den Allermeisten obsiegen wird.
@Dieter Heinemann: Beim ersten Lockdown waren die Maßnahmen viel strenger als beim jetzigen, weil zu der Zeit einfach noch nicht so viel über die Verbreitungswege des Virus bekannt war; außerdem wurde damals offenbar ausschließlich das Urteil der Virologen berücksichtigt, ohne die gesellschaftlichen Folgen eines harten Lockdowns zu berücksichtigen. Heute ist dies anders, denn nun sitzen ebenso Psychologen und andere Experten im Konzertierungsausschuss.
Auch wenn die Lage in den Krankenhäusern noch immer dramatisch ist, geht die Zahl der täglichen Neuinfektionen langsam zurück. Eine positive Entwicklung, die sich in den kommenden Wochen hoffentlich beschleunigt.
Wir müssen die Zeit bis zum Vorliegen eines Impfstoffs irgendwie überstehen und ich bin guter Hoffnung, dass dies durch die nun getroffenen Maßnahmen, die viel stärker als beim ersten Lockdown auf der Eigenverantwortung aufbauen, auch gelingt, ohne dass es in der Provinz Lüttich oder in Brüssel zu einer Katastrophe wie im Frühjahr in der Lombardei kommen wird.
@LR Jusczyk
Ich denke nicht, dass die jetzigen Maßnahmen in irgendeiner Form auf Eigenverantwortung aufbauen. Dieses „schwedische Konzept“ funktioniert in einem Land wie Belgien aus unterschiedlichen Gründen nicht und ist krachend gescheitert.
Dies haben uns die vergangenen Wochen - auch in der DG - überdeutlich gezeigt.
Auch jetzt noch verstehen zu viele Bürger es nicht, dass man auch über die „Zwangsmaßnahmen“ hinaus, sein individuelles Verhalten noch anpassen kann, nein anpassen muss.
Guter Artikel!