Wer wusste was wann? Diese Frage stand im Mittelpunkt der gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse für Inneres und Justiz. Die Abgeordneten waren kurzfristig zusammengerufen worden, eben weil das Ganze doch so verstörend ist.
Für die Öffentlichkeit und auch die Parlamentarier beginnt die ganze Geschichte eigentlich in der vergangenen Woche mit einigen Presseartikeln. Drastische Bilder sind zu sehen, die allerdings schon zweieinhalb Jahre zurückliegen. Es geht um den Tod von Jozef Chovanec. Besagte Bilder einer Überwachungskamera zeigen einen doch sehr entschlossenen - um nicht zu sagen: brutalen - Polizeieinsatz am Flughafen von Charleroi. Ein Mann wird von einem halben Dutzend Polizisten festgehalten. Rund eine Viertelstunde lang wird er mit einem Knie im Nacken auf die Pritsche einer Arrestzelle gedrückt. Die Zeitungen sprechen von einem "belgischen Fall George Floyd". Bei alledem scheinen die Beamten Witze zu machen. Zu allem Überfluss zeigt auch noch eine Polizistin den Hitlergruß.
Fakt ist: Jozef Chovanec ist tot. Er musste mit akutem Herzstillstand ins Krankenhaus gebracht werden, wo er später verstarb.
Schlimme Bilder, die aber sozusagen "noch schlimmer" werden, als sich herausstellt, dass die Vorgesetzten sie noch nie gesehen haben. Der zuständige Generaldirektor der föderalen Polizei und auch der Chef der Flughafenpolizei geben daraufhin bekannt, dass sie ihre jeweiligen Ämter für die Dauer der internen Untersuchung ruhen lassen.
Wer wusste was wann? Diese Frage sollten also zunächst die beiden zuständigen Minister beantworten. Innenminister Pieter De Crem machte schnell klar: Er wusste von gar nichts, weder von den Bildern, noch von dem Vorfall an sich. De Crem war zum Zeitpunkt der Ereignisse noch nicht Innenminister und auch nach seiner Amtsübernahme sei der Vorfall bei den verschiedenen Briefings nicht zur Sprache gekommen.
Erstmal schilderte De Crem dann die Ereignisse, so wie sie in den Akten stehen. Demnach habe alles damit begonnen, dass Jozef Chovanec heftigst randaliert habe. Er muss, auf Hochdeutsch gesagt, völlig ausgerastet sein. Er habe die Stewardess weggeschubst, um sich Zugang zur Kabine eines Flugzeugs zu verschaffen. Daraufhin sei die Polizei gerufen worden, die den 38-Jährigen in eine Arrestzelle im Flughafengebäude gebracht habe. Ein Arzt sei konsultiert worden, der der vorläufigen Inhaftierung zugestimmt habe.
In der Nacht hat der Mann dann aber wie wild mit dem Kopf gegen die Zellentür geschlagen, bis sein Gesicht blutig war. Daraufhin haben die Polizisten versucht, ihn zu beruhigen. Das muss also die Szene sein, die auf den Bildern zu sehen ist. Danach sei ein Ärzteteam in die Zelle gekommen, um ihm ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. Wenig später sei aber ein Herzstillstand festgestellt worden.
Zwar konnte er wiederbelebt werden, doch starb der Mann einige Tage später im Krankenhaus. Im Moment gehe man davon aus, dass Jozef Chvanec eine Art Tobsuchtsanfall erlitten hat. Experten sprechen vom Excited Delirium Syndrom, das tatsächlich fatale Folgen haben kann.
Damit endet aber nicht die Schilderung des Innenministers. Denn: Der Vorfall hatte ein diplomatisches Nachspiel. Schnell habe sich der slowakische Botschafter gemeldet, der also nähere Einzelheiten über den Tod seines Staatsbürgers verlangt habe. Und, im Gespräch mit Vertretern des Außenministeriums habe der Botschafter ein Treffen mit Innenminister Jan Jambon erwähnt. Ein entsprechender Bericht sei im Juli 2018 dem Kabinett des Innenministers zugestellt worden.
Jambon wusste Bescheid
So unaufgeregt, fast beiläufig das auch aus dem Mund von Pieter De Crem klingen mag, diese Info ist eine kleine Bombe. Jan Jambon hatte nämlich bislang über seinen Sprecher und auch über seinen Parteikollegen Theo Francken verlauten lassen, dass er von dem Vorfall nichts gewusst habe, geschweige denn von den Bildern. Das stimmt so also nicht, und deswegen wollen Abgeordnete der Opposition jetzt auch Jan Jambon anhören, der ja inzwischen flämischer Ministerpräsident ist.
De Crem konnte - wie auch später Justizminister Koen Geens - den Vorfall nur bedauern. Die entsprechende Untersuchung stehe kurz vor dem Abschluss. De Crem bestätigte, dass auch die Polizeispitze nichts von den Bildern gewusst habe. Mehr wollte und konnte er nicht sagen, da eben die Untersuchung noch laufe. De Crem und auch Geens machten allerdings gleichermaßen deutlich, dass sie insbesondere auch die "faschistoiden Gesten" ablehnen, die auf den Bildern zu sehen sind.
Roger Pint