In Belgien werden pro Jahr zwischen 1.000 und 1.200 Personen als vermisst gemeldet. In den allermeisten Fällen geht die Suche aber gut aus, meist tauchen die Menschen nach kurzer Zeit von selbst wieder auf oder melden sich. Beziehungsweise werden sie von den Behörden oder auch Bürgern gefunden. Die Aufklärungsrate liegt bei weit über 90 Prozent. Und 85 Prozent aller Vermissten werden lebend wiedergefunden. Das sind sehr hohe Erfolgsraten.
Die Menschen, deren Aufgabe es ist, Vermisste zu suchen und zu finden, gehören der Zelle "Vermisste Personen" der Föderalen Polizei an. 17 Beamte sind es, die entsprechende Dossiers bearbeiten. Ins Leben gerufen wurde die Stelle nach den schrecklichen Ereignissen der Affäre Marc Dutroux. In den mittlerweile fast 25 Jahren Tätigkeit hat die Zelle "Vermisste Personen" beinahe 29.000 Fälle bearbeitet, davon über 8.000 von Minderjährigen. Natürlich haben die wenigsten einen kriminellen Hintergrund. Menschen verschiedener Altersgruppen können selbst beschließen, unterzutauchen, um Problemen zu entkommen. Oder sie gehen aufgrund gesundheitlicher Probleme verloren, zum Beispiel weil sie in eine Notlage geraten oder sich verirren.
Die Beamten der Zelle "Vermisste Menschen" wissen aus Erfahrung, dass gerade Krisenzeiten oft Hochzeiten für das Verschwinden von Personen sind. Deshalb befürchteten die Beamten auch, dass der Corona-Lockdown zu einer deutlichen Zunahme der Fälle führen könnte. Diese Annahme war nicht aus der Luft gegriffen. Die Ausgangsbeschränkungen führten zu einer Zunahme häuslicher Gewalt, sei es nun psychischer oder körperlicher Art. Zwischenmenschliche Spannungen waren oft unvermeidbar. Viele Menschen fühlten sich auch zunehmend einsam. Je schlechter es solchen Menschen geht, desto höher das Risiko, dass sie eine Verzweiflungstat begehen könnten.
Zahl der Vermisstenfälle stark gesunken
Aber der erwartete Peak kam nicht. Ganz im Gegenteil. Während der Corona-Krise ist die Zahl der Vermisstenfälle sogar stark gesunken. Das berichtet am Montag die Zeitung De Morgen, die mit dem Chef der Zelle "Vermisste Personen", Alain Remue, gesprochen hat. Während des Lockdowns wurden so gut wie keine Vermissten mehr gemeldet. Erst als die Beschränkungen nach und nach wieder aufgehoben wurden, ging es auch wieder los mit den Suchanfragen. Man habe dieses Jahr bislang nur 373 Fälle gehabt, bestätigte Alain Remue in der Zeitung. Damit werde man bis Ende des Jahres wohl nicht in der Nähe der rund tausend Dossiers eines normalen Jahres kommen.
Die Gründe dafür sind so verschieden wie die Profile einer typischen vermissten Person. Die Anzahl verschwundener Risikopersonen aus Alten- und Pflegeheimen ging auf Null zurück, erklärte Alain Remue in der VRT. In Nicht-Corona-Zeiten müsste die Zelle "Vermisste Personen" dagegen Woche für Woche drei bis vier Mal ausrücken, um auf Abwege geratene Senioren mit Demenz zu suchen. Weil aber seit März die Heime quasi von der Außenwelt abgeriegelt waren, konnte das nicht mehr passieren, so Remue. Allerdings gab es auch einige wenige Menschen, die über die erzwungene Isolation alles andere als begeistert waren. So habe man drei Fälle von Heimbewohnern gehabt, die ausgebüchst waren und explizit angaben, dass sie schlicht genug davon hatten, eingesperrt zu sein und nicht mehr raus zu dürfen.
Die zweite große Risikogruppe bei den Vermisstenfälle sind Minderjährige. Auch deren Zahl habe sehr stark abgenommen, wie Alain Remue erklärte. Das liege daran, dass bei dieser Altersgruppe das Verschwinden oft etwas mit Ausgehen und Nachtleben zu tun habe. Dazu gehörten beispielsweise auch junge Menschen, die nach einer Ausgehnacht woanders übernachteten, ohne ihre Eltern darüber zu informieren. Aber auch Menschen - nicht nur junge -, die sonst auf dem Heimweg vom Feiern einen Unfall hätten und zum Beispiel in Kanäle oder Flüsse stürzten. Dass das Nachtleben selbst jetzt noch nur auf Sparflamme drehe, mache sich hier auch weiter bemerkbar, stellte Remue fest.
Die Beamten sind zwar froh über diesen positiven Nebeneffekt der Corona-Krise. Aber sie sind auch realistisch - gerade, weil die wirtschaftlichen Folgen der Epidemie manchmal erst noch kommen werden. Manche Menschen hätten sehr viel weniger Geld als vor der Krise. Dazu kommt, dass jetzt auch bald wieder die dunklere Jahreszeit beginnt. Umstände, die für manche Menschen sehr schwer werden, warnte Remue.
Boris Schmidt